Neue Einsichten, alte Mythen

geschrieben von Jakob Knab

22. März 2020

Die beiden namhaften Autoren des im November erschienen Buches »Die Wehrmacht – Krieg und Verbrechen« sind ausgewiesene Kenner der deutschen und preußischen Militärgeschichte. Zudem verfassten sie eine Reihe profilierter Gutachten zu historisch bedenklichen und geschichtspolitisch umstrittenen Traditionsnamen in der Bundeswehr. Aus diesen Gründen wird man diese Neuerscheinung mit erwartungsvoller Spannung zur Hand nehmen.

Das erste Kapitel befasst sich mit der ­Blockade von Leningrad. Diese Millionenstadt wurde am 8. September 1941 von der Heeresgruppe Nord eingeschlossen. Zu Beginn der Blockade war der im Text nicht genannte GFM Ritter von Leeb der Oberbefehlshaber. Nach Leebs Rücktritt bekam Küchler am 17. Januar 1942 das Kommando über diese HG. Der Leser erfährt nicht, dass Leeb bis 1992 in der Bundeswehr traditionswürdig war, obwohl er u.a. auch wegen der Weitergabe des Kommissarbefehls zu drei Jahren Haft verurteilt worden war. (Nota bene: Tradition ist nicht Geschichte, sondern eine absichtsvolle und sinnstiftende Auswahl aus ihr.) Auch der Durchhaltekrieger Fahnert war bei der Blockade von Leningrad dabei. Jener Fahnert, der schon ab September 1904 bei der Niederwerfung des Aufstandes der Herero und Nama dabei war, war zudem bis Oktober 2016 Kasernenpatron der Bundeswehr in Karlsruhe. Doch davon wollen die beiden Autoren nichts wissen.

Die Wehrmacht – Krieg und Verbrechen (Kriege der Moderne). Von Michael Epkenhans und John Zimmermann. Reclam 2019, 160 Seiten, 14,95 EUR

Die Wehrmacht – Krieg und Verbrechen (Kriege der Moderne). Von Michael Epkenhans und John Zimmermann. Reclam 2019, 160 Seiten, 14,95 EUR

Der Überfall auf Polen am 1. September 1939 bildete den »Auftakt zum Vernichtungskrieg«. Vor dem Angriff auf Krakau hielt Leutnant Lent – für die Bundeswehr wohl bis 2020 traditionsstiftend – fest: »Jeder von uns weiß, daß heute ein schicksalsschwerer Abschnitt Weltgeschichte beginnt, der nicht mit Worten und auf Papier, sondern mit Blut geschrieben wird. Jeder von uns ist sich seiner Verantwortung bewußt, daß des Führers Hoffnung auf seine Luftwaffe nicht enttäuscht wird.« Zu Recht halten die beiden Historiker Epkenhans und Zimmermann fest, dass die deutsche Kriegsführung im Osten von Anfang an als Raub-. Rasse- und Vernichtungskrieg gedacht und umgesetzt worden ist.

Am 22. Juni 1941 begann der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Jagdflieger Mölders – für die Bundeswehr bis Januar 2005 traditionsstiftend – schrieb: »Ein gewaltiger Krieg ist im Gange, und ich bin stolz darauf, mit meinem Geschwader im Schwerpunkt der Kampfhandlungen eingesetzt zu sein.« Nicht dem Heldenmythos, sondern der historischen Aufklärung gilt das Interesse der beiden Autoren, wenn sie den deutschen Historiker Ernst Nolte anführen, für den bereits 1963 dieser Krieg als der »ungeheuerlichster Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt«, galt.

Zum Krieg gegen die Sowjetunion gehörten auch die Angriffe der Kriegsmarine auf britische Konvois und Geleitzüge in Richtung Murmansk. Dieser Nachschub war für das eingeschlossene Leningrad überlebenswichtig. In dieses kriegsgeschichtliche Umfeld gehört auch die einst legendäre Schlacht am Nordkap (Dezember 1943). Auch der für die Bundeswehr (Deutsche Marine) immer noch traditionsstiftende Johannesson war dabei. Zudem hatten von Finnland aus Dietls Gebirgstruppen den Vorstoß in Richtung Murmansk begonnen. Dieser mustergültige Nazi-General forderte von seinen Soldaten, den Feind mit rücksichtsloser Härte niederzuringen.

Auf Seite 130 heißt es über General Speidel: »Die französische Ablehnung von Hans Speidel, der während des Krieges als Chef des Kommandostabs beim Militärbefehlshaber Frankreichs für Geiselerschießungen mitverantwortlich gewesen war, und dessen daraus folgende Ablösung als Oberbefehlshaber der alliierten Landstreitkräfte in Mitteleuropa 1963 blieb ein Einzelfall.« Es bleibt unerwähnt, dass Anfang April 1944 jenem Speidel auf dem Obersalzberg vom »Führer« persönlich das Ritterkreuz verliehen wurde. Ebenfalls im April 1944 kam Speidel von der Ostfront als neuer Generalstabschef zu Rommel nach Frankreich. Nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft verstand es der sprachgewaltige und wendige Traditionalist Speidel, die kriegerische Tüchtigkeit der Wehrmacht enthistorisierend, heroisierend sowie glorifizierend darzustellen. Geschichte und Geschichtsdeutung waren in seinen Händen geistige Waffen. Seit November 1997 begründet Speidel für die Bundeswehr eine sinnstiftende Tradition.

Ebenfalls auf Seite 130 heißt es in einer Bildunterschrift zur Hochstaufen-Kaserne in Bad Reichenhall: »2012 erhielt die damals nach General Rudolf Konrad benannte Kaserne ihren neuen Namen. Dessen Handlungen gelten als nicht vereinbar mit dem Traditionsverständnis der Bundeswehr.« Als Leser würde man gerne den Grund für diese Unvereinbarkeit erfahren. Vielleicht wird mit dem nichtssagenden Verweis auf Konrads Handlungen auf diese antisemitische Weisung des Generals vom 7. März 1943 angespielt: »Die Juden sind unser Unglück. Die Juden sind das Unglück der Völker Russlands. Warum wir Krieg führen (Kampf gegen den Weltfeind – das Judentum).« Frage an das Autorenteam: Warum eigentlich konnte Konrad vom Juni 1965 bis zum August 2012 für die Gebirgstruppe der Bundeswehr eine sinnstiftende Tradition begründen? Warum blieben die Gutachten des MGFA unter Verschluss?

Ab Herbst 1943 führte die Wehrmacht in Italien einen schmutzigen Krieg. Durch Rommels – wie auch Kesselrings – völkerrechtswidrige Befehle wurde der deutsche Vergeltungsterror angeheizt. Am 23. September 1943 erließ Rommel als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B in Italien die folgende Weisung: »Irgendwelche sentimentalen Hemmungen des deutschen Soldaten gegenüber Badogliohörigen Banden in der Uniform des ehemaligen Waffenkameraden sind völlig unangebracht. Wer von diesen gegen den deutschen Soldaten kämpft, hat jedes Anrecht auf Schonung verloren und ist mit der Härte zu behandeln, die dem Gesindel gebührt, das plötzlich seine Waffen gegen seinen Freund wendet. Diese Auffassung muß beschleunigt Allgemeingut aller deutschen Truppen werden.« Auf Seite 109 schreibt das Autorenteam: »Noch vor Ausbruch des offenen Partisanenkrieges gingen die Truppen auf Befehl Hitlers mit großer Härte gegen die zuvor mit ihnen verbündeten Soldaten vor: ‚Wer von diesen gegen den deutschen Soldaten kämpft, hat jedes Anrecht auf Schonung verloren und ist mit der Härte zu behandeln, die dem Gesindel gebührt, das plötzlich seine Waffen gegen seinen Freund wendet‘, hieß es in einem zentralen Befehl vom September 1943 für Italien.« Indes: Rommel begründet für die Bundeswehr in Dornstadt und Augustdorf eine erinnerungswürdige, sinnstiftende und identitätsstiftende Tradition. Darüber erfährt der Leser freilich nichts.

In der Traditionsdebatte, die auf der Bundeswehr seit ihrer Gründung wie Mehltau lastet, gelangt das Autorenteam Epkenhans / Zimmermann zu diesem Fazit: »Kasernennamen zu Ehren überzeugter NS-Generale wie ‚Dietl‘ (Füssen) und hingerichteter Kriegsverbrecher wie ‚Kübler‘ (Mittenwald) oder der ‚Student‘-Saal in Altenstadt blieben daher unangetastet. Erst massiver öffentlicher Druck hatte in den 1990er Jahren ein Umdenken zur Folge.« Leider sucht der Leser vergeblich die Antwort auf die Frage, warum die Bundeswehr aus eigener Kraft diese geschichtspolitische Neuorientierung auf der Wertegrundlage des Grundgesetzes nicht schafft.

Fazit: Epkenhans und Zimmermann haben auf der Grundlage der aktuellen Forschung die unheilvolle Rolle der Wehrmacht im Vernichtungskrieg mustergültig erläutert. Indes: In einer unterschwellig perfiden Vertextungsstrategie wird ein neuer Mythos von der sauberen Traditionspflege in der Bundeswehr geschaffen, da dem unbedarften und gutgläubigen Leser nur eine geplättete und geglättete Fassade präsentiert wird.

In dem unbedingt lesenswerten Nachwort stellt der Kommandeur des ZMSBw Potsdam die bewegende Frage: »Mich persönlich hat immer die Frage bewegt, warum Menschen in einem Krieg derart ‚verrohen‘ können. Menschen, die vor dem Krieg Söhne, Brüder und Väter waren und von denen zu viele während des Krieges bereit waren, jene Verbrechen zu begehen, die uns heute so erschüttern und mit dem Soldatentum unvereinbar sind.« – Die Antwort liegt auf der Hand: Nirgendwo in der NS-Gewaltherrschaft waren ideologische Gleichschaltung, Feindbilder, Konformitätsdruck, Drill, Anpassung, Mitläufertum, Angst, Untertanengeist und Kadavergehorsam so fatal ausgeprägt wie in der Wehrmacht. Die Verbindung der Pflicht mit der Phrase, so schließlich die bittere Einsicht, ist die eigentliche Entmenschung des Menschen.

Die Reihe »Kriege der Moderne« wird vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr herausgegeben.