Seuchennotstand

geschrieben von Reinhold Weismann-Kieser

15. Mai 2020


Die Literatur kennt Corona-Zustände schon lange

Seuchen waren immer wieder Gegenstand der Literatur. Pest als Geißel der Menschheit beschäftigte die Autoren. Genannt seien nur Boccaccio (14. Jahrhundert), Daniel Defoe (18. Jahrhundert) oder Edgar Allan Poe (19. Jahrhundert). Der Klassiker des 20. Jahrhundert ist »Die Pest« von Albert Camus (1947). 1995 schließlich erschien der Roman des Portugiesen José Saramago, 1997 
erstmals deutsch unter dem Titel »Die Stadt der Blinden«. In allen diesen Werken geht es den Autoren nicht nur um den Verlauf und die Schrecken der Seuche. Immer kommen auch gesellschaftliche, moralische und religiöse Probleme zur Sprache.

Die Pest

Camus verlegt den Ort der Handlung nach Oran, der Hauptstadt eines Departements in der damaligen französischen Kolonie Algerien. Der Roman spielt in den 1940er Jahren. Zu jener Zeit gilt die Pest als eine Seuche, deren erste Anzeichen, Symptome und Übertragungswege bekannt sind. Auch ihr Erreger ist erforscht und ein Serum im Prinzip verfügbar. Der rapide katastrophale Verlauf der Epidemie ist also der Ignoranz der Verwaltung gegenüber den ersten Anzeichen geschuldet. Im Kampf dagegen treten mehrere Personen auf: Der unermüdliche Arzt Rieux und Professor Castel, der nach einem neuen Serum gegen den Bazillus sucht. Der junge Aktivist Tarrou, der ein Freiwillegencorps gründet. Der Jesuitenpater Paneloux, der zunächst die Pest als längst fällige Strafe Gottes feiert, sich dann aber bei den Freiwilligen zur Bekämpfung einreiht. Oder der Journalist Rambert, der erst versucht, der Liebe wegen illegal aus der eingeschlossenen Stadt nach Paris zu entkommen, dann aber bleibt, um mit-zukämpfen.

Die Stadt der Blinden

Bei José Saramago trifft eine rätselhafte Seuche ein anonymes Gemeinwesen mit anonymen Verwaltungsstrukturen. Plötzlich werden Menschen blind, sehen jedoch keine Dunkelheit, sondern blendendes Weiß. Über die Praxis eines Augenarztes und die Patienten im Wartezimmer breitet sich die Krankheit rasch aus. Die ersten Blinden und ihre Kontaktpersonen werden in einer leerstehenden Irrenanstalt unter verkommenen hygienischen Bedingungen isoliert. Soldaten bewachen sie mit Schusswaffen. Die Eingesperrten werden nur unregelmäßig und unzureichend mit Lebensmitteln versorgt. Unter den Blinden setzt rasch ein Prozess der »Vertierung« ein, also ein Kampf Aller gegen Alle. Die Frau des Augenarztes, auf unerklärliche Weise nicht erblindet, ist ihrem Mann aus Liebe in die Quarantäne gefolgt. Ihr gelingt es – lange ohne ihre Sehfähigkeit zu enthüllen – wenigstens im ersten Schlafsaal ein Minimum an Organisation zu erhalten. Doch im dritten Saal setzt sich eine Gangs-terbande fest. Sie eignet sich die Nahrungsmittel an, um von den Insassen aus den anderen Sälen die Wertsachen zu erpressen und die Frauen zur Prostitution zu zwingen. Die Sehende schneidet dem Anführer schließlich die Kehle durch. Eine andere Erniedrigte zündet die Barrikaden vor dem Gangstersaal an, worauf das Irrenhaus abbrennt.

Die Insassen stellen fest, dass die Bewacher verschwunden sind. In der ganzen Stadt irren nur Blinde herum und suchen in leeren Supermärkten nach Nahrung. Die Frau des Augenarztes mit einer kleine Gruppe, die sie von Beginn an um sich geschart hat, finden in die Wohnung des Arztes. Da plötzlich erlischt die Seuche, und alle werden wieder sehend …

Realer Hintergrund

Camus erlebte Paris unter faschistischer Besatzung – im »Belagerungszustand« – und fand dort zur Resistance. Die Pest in Oran kann also als »Belagerungszustand« und die Entscheidung zum Widerstand gegen die Besatzung als moralische Frage gedeutet werden. Interessant ist die Haltung von Doktor Rieux zur Moral: Gut und Böse sei eine Frage der Aufklärung! Auch die
besten Absichten ohne Klarheit könnten böse Folgen haben! Er will allerdings die Entscheidung für den Kampf nicht gegen die Liebe ausspielen. Für Lambert ist die Entscheidung zum Bleiben also ein bewusster Verzicht!

Bei Saramago kann man die sichtbare Welt als geordnet deuten. Die Erblindung – weiß – hieße dann Unordnung. Nur in der kleinen Ordnungszelle der Sehenden wächst noch Zärtlichkeit und Liebe. Unter den Bedingungen der Unordnung 
erweist sich dagegen die böse Natur der Menschen. Sie verfallen dem Chaos. Erkennen sie das, werden sie wieder sehend, können zur Ordnung zurückkehren.