75 Jahre 8. Mai 1945

geschrieben von Ulrich Schneider

27. Mai 2020

»Tag der Befreiung« und »Morgenrot der Menschheit«

»Den 8. Mai 1945 erlebte ich in Turin. Ich war in einer Kaserne untergebracht; nun weckte mich ein unaufhörliches Glockengeläut. Es verkündete das Kriegsende. Ich ging ins Zentrum und wurde von den Hunderttausenden, die sich gegenseitig umarmten fast erdrückt. Und unter Mandolinenklängen von »Bella ciao«, »Avanti popolo … bandiera rossa« sangen und tanzten sie bis in die tiefe Nacht. So kann nur ein Volk feiern, das selbst heldenhaft für seine Befreiung gekämpft hat.

Die Befreiung! Der deutsche Faschismus endgültig zerschmettert, die Menschheit vor dem Untergang in die Barbarei gerettet! »Ich hatte Tränen der Freude, aber auch der Trauer, wenn ich an all jene dachte, die ihr Leben für diesen Tag eingesetzt hatten, ihn aber nicht erleben konnten.« Mit diesen Worten schilderte der jüdische Kommunist und Widerstandskämpfer Peter Gingold, Kämpfer in den Reihen der französischen Résistance, seine Erinnerungen an den 8. Mai 1945.

Tatsächlich ist dieses Datum ein welthistorisches Ereignis. Es widerspiegelt die Kraft und Leistung aller Beteiligten der Anti-Hitler-Koalition bei der Niederschlagung des deutschen Faschismus. Dazu gehörten natürlich die Armeen der Alliierten, wobei die militärische Hauptlast unstrittig bei der sowjetischen Armee lag. Dazu gehörten insbesondere auch die bewaffneten Kämpfer in den Reihen der Partisanen und nationalen Befreiungsarmeen und die Frauen und Männer, die in der Illegalität oder vom Exil aus Widerstand organisierten und damit zur Schwächung der faschistischen Barbarei beitrugen. Ein solches Bündnis hatte es in der Geschichte noch nie gegeben. Es vermochte durch die militärische Zerschlagung des Faschismus Europa zu befreien.

 

Der geschichtspolitische Streit um den 8. Mai

Die deutsche Bevölkerung erlebte diesen 8. Mai 1945 widersprüchlich. Tatsächlich befreit fühlten sich die Verfolgten des Naziregimes in den faschistischen Haftstätten sowie die Minderheit der Nazigegner, die sich in den Lagern, in den illegalen Gruppen oder im Exil bereits auf einen antifaschistisch- demokratischen Neuanfang vorbereitet hatten.

Für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung stellte sich der 8. Mai 1945 zu allererst als Kriegsende dar, hatte doch die große Masse der Deutschen bis 5 nach 12 die faschistische Kriegspolitik mitgetragen. Das war nicht so sehr Resultat ideologischer Begeisterung oder der Angst vor faschistischem Terror geschuldet, auch wenn in den letzten Tagen des Krieges zahlreiche deutsche Zivilisten nicht mehr durch alliierte Kriegshandlungen, sondern von den eigenen Leuten umgebracht wurden. Wie man heute weiß, machten sich viele Deutsche Sorgen darüber, was eine Besetzung durch die Alliierten bringen würde. Man war sich der begangenen Verbrechen bewusst und fürchtete die »Rache der Alliierten«. Große Angst hatte die deutsche Zivilbevölkerung auch vor den Zwangsarbeitern, die in den Jahren zuvor ausgebeutet und drangsaliert worden waren. Wie würden sie reagieren, wenn sie nicht mehr unter der Terrorknute des Naziregimes eingekerkert waren? Befreit fühlte sich die Masse der Bevölkerung nur von einer Sorge, nämlich noch in den letzten Tagen des nicht mehr gewinnbaren Krieges Leben, Verwandte oder Hab und Gut zu verlieren.

In den ersten Jahren spielte in der Erinnerungspolitik nicht der 8. Mai, sondern der »Zweite Sonntag im September« als Tag der Opfer des Faschismus die wichtigere Rolle. Antifaschistische Verbände und demokratische Parteien gedachten gemeinsam der Opfer und bekräftigten die Losung »Nie 
wieder!«.

Doch dieses Gedenken wurde Ende der 40er Jahre bereits durch den Kalten Krieg überlagert. Reaktionäre Politiker in den Westzonen vermochten – unterstützt durch konservative Medien – im öffentlichen Auftreten eine sprachliche Neuorientierung für den 8. Mai 1945 durchsetzen. Wer Begriffe wie »Niederlage« oder »Katastrophe« benutzte, machte in diesen Jahren seinen Zuhörern deutlich, wie eng er sich mit der NS-Zeit verbunden fühlte, was zumeist durchaus gewollt war. Weniger reaktionäre Kräfte zogen sich auf die Begriffe »Zusammenbruch« oder – wertneutral – »Kriegsende« zurück. Der damalige Bundespräsident Theodor Heuss sprach von einer »Paradoxie der »Erlösung und Vernichtung 
in einem«.

Den Begriff »Befreiung« nutzten in den 50er und Anfang der 60er Jahre nur noch Antifaschisten Da dieser Begriff in der damaligen DDR offiziell Verwendung fand, geriet er in das ideologische Kampffeld des Kalten Krieges. Und so ergab sich die – aus heutiger Perspektive – absurde Logik: »Befreiung« wird von der DDR verwendet. Wer also diesen Begriff für den 8. Mai benutzt, vertritt die ideologische Position der DDR. Wer die DDR unterstützt, unterstützt den Kommunismus. Also ist derjenige, der von »Befreiung« spricht, Kommunist und aus der bundesdeutschen Gesellschaft auszugrenzen.

Erst die beginnende Auseinandersetzung über die verdrängte NS-Vergangenheit durch die 68er Bewegung führte dazu, dass für den Begriff der »Befreiung von Faschismus und Krieg« in der BRD gesellschaftlicher Raum entstand. Sichtbar wurde dies am 10. Mai 1975, als in Frankfurt/M. auf dem Römerberg – unter maßgeblicher Beteiligung der VVN-BdA – eine bundesweite Kundgebung mit 40.000 Menschen unter dem Motto »30 Jahre Befreiung vom Hitlerfaschismus – 30 Jahre Kampf für ein Europa des Friedens« stattfand. Wichtig war nicht nur die Zahl der Teilnehmenden – es war eine der größten Demonstrationen in Frankfurt in der Nachkriegszeit – sondern auch die politische und gesellschaftliche Breite der Unterstützer dieser Aktion. Schriftsteller, Professoren, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Parteien und Organisationen aus dem gesamten linken und humanistischen Spektrums hatten dazu aufgerufen.

Neubewertung nicht mehr zu umgehen

Zehn Jahre später, im Jahre 1985, hatte diese Auseinandersetzung auch die Regierenden erreicht. Noch im Herbst 1984 erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl, er wisse nicht, was er am 8. Mai feiern solle. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Alfred Dregger, assistierte ihm, der 8. Mai sei eine der größten Katastrophen Europas gewesen und Katastrophen könne man nicht feiern. Heiner Geißler sprach vom »Tiefpunkt deutscher Geschichte«. Und wenige Tage vor dem 8. Mai zelebrierte Helmut Kohl mit Ronald Reagan in Bitburg eine »Versöhnung über den Gräbern« der SS.

Es war der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der mit seiner Rede zum 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag diesem Datum eine ganz andere Bedeutung gab. Zum ersten Mal sprach ein Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland vom 8. Mai 1945 als »Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus«. Außerdem würdigte er – ebenfalls zum ersten Mal – den antifaschistischen Widerstand in seiner tatsächlichen politischen Breite, also unter wertschätzender Einbeziehung der Frauen und Männer aus dem kommunistischen Widerstand. Es waren nicht zuletzt diese Passagen, die »die Rede«, wie sie später nur noch genannt wurde, so bedeutend machten.

Gegen diese Neubewertung richtete sich ein Jahr später ein ideologischer Roll-back, der »Historikerstreit«. Unter der Überschrift »Vergangenheit, die nicht vergehen will« veröffentlichte Prof. Ernst Nolte am 6. Juni 1986 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« einen Aufsatz, der eine breite öffentliche Debatte auslöste. Seine Thesen lauteten sinngemäß: Der Holocaust stelle keine Einmaligkeit dar. Die Vernichtungslager seien nur die Reaktion auf Bedrohungsängste Hitlers durch den Bolschewismus. Das »Archipel Gulag« sei die Voraussetzung für Auschwitz. Und letztlich stelle Auschwitz in diesem Rahmen nur eine Art »technische Innovation« dar. Andreas Hillgruber assistierte in seinem Buch »Zweierlei Untergang« mit einer Neubewertung der deutschen Wehrmacht, deren Niederlage eigentlich eine Niederlage ganz Europas gewesen sei, habe sie doch gegen die »Überflutung ihrer Heimat durch die Rote Armee« gekämpft.

Bei diesem Streit ging es nur vorgeblich um historische Fakten. Prof. Michael Stürmer, Kanzler-Berater von Helmut Kohl, hatte bereits die Parole ausgegeben: »In einem geschichtslosen Land (gewinnt derjenige) die Zukunft, der die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.« Aus antifaschistischer Sicht kam auch Prof. Reinhard Kühnl zu dem Ergebnis: »Tatsächlich … geht es auch und wesentlich darum, welche Konsequenzen sich aus der faschistischen Vergangenheit für uns ergeben und welchen Weg dieses Land einschlagen soll. Nicht um die Vergangenheit geht es primär, sondern um die Zukunft.«

Es war Ausdruck des ideologischen Kräfteverhältnisses in diesen Jahren, dass sich Nolte & Co. nicht durchsetzen konnten. Vielmehr nahmen antifaschistische Perspektiven breiteren Raum in der Alltagsgeschichte ein. Nicht die professoralen Historiker an den bundesdeutschen Universitäten, sondern zahllose Initiativen würdigten den antifaschistischen Widerstand, begannen mit der Aufarbeitung der Regionalgeschichte der NS-Zeit, setzten sich für Gedenkorte und andere öffentliche Erinnerungszeichen ein. Man konnte tatsächlich von antifaschistischen Perspektiven im Alltag der BRD sprechen.

Zu erwähnen ist, dass eine solche regionalisierte antifaschistische Geschichtserinnerung, beginnend in den 70er Jahren, auch in der DDR zunehmend Bedeutung erhielt. Hier waren es insbesondere Geschichtszirkel und bezirkliche Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer, die sich um diese Darstellung bemühten.

DDR-Antifaschismus in Frage gestellt

Einen massiven Bruch erlebte die Geschichtserinnerung mit dem Ende der DDR 1989/90 und der damit verbundenen ideologischen »Delegitimierung« (Kinkel) dieses sich antifaschis-tisch verstehenden Staates. Die Abwicklung der antifaschistischen Gedenkorte in der DDR, die Angriffe auf die ehemaligen Mahn- und Gedenkstätten, die Beseitigung von Straßennamen und anderen öffentlichen Erinnerungszeichen in den »neuen Bundesländern« sind bekannt. Die Auswirkungen auf das öffentliche Gedenken waren deutlich sichtbar. Zum 8. Mai 1990 fanden nur vereinzelt regionale Aktivitäten statt. Der Bundestag und die Volkskammer beließen es bei kurzen, belanglosen Gedenkritualen.

Trotz aller politischen Kampagnen gegen einen »staatlich verordneten Antifaschismus« gelang es jedoch nicht, Antifaschismus im Alltagsbewusstsein zu diskreditieren. In den neuen Bundesländern hielten sich Erinnerungsrituale, die – wenn sich die staatlichen Gremien nicht mehr dafür verantwortlich zeigten – oftmals von der PDS oder den antifaschistischen Verbänden fortgeführt wurden. In den alten Bundesländern blieben die VVN-BdA, antifaschistische Initiativen und Netzwerke aktiv, so dass der 8. Mai als Tag der Befreiung nicht in Vergessenheit geriet.

Das Jahr 1995 wurde in dieser Hinsicht zu einem Markierungspunkt, wie zukünftig in der deutschen Gesellschaft die Befreiung von Faschismus und Krieg begangen werden sollte. Noch einmal meldete sich Alfred Dregger zu Wort und meinte, dass angesichts von Zerstörung, Vertreibung und Elend der Deutschen von Befreiung keine Rede sein könne. Die Granden des deutschen Geschichtsrevisionismus veröffentlichten in der FAZ eine Anzeige, die den 8. Mai als »Beginn des Vertreibungsterrors« uminterpretierte. Aber sie bekamen politischen Gegenwind, sodass selbst eine geplante Großkundgebung in München mit Alfred Dregger abgesagt werden musste.

Kundgebungen anlässlich der Befreiungstage in den KZ-Gedenkstätten wurden aber von Staatsvertretern dazu missbraucht, ihre »Neudefinition der Geschichte« durchzusetzen. Während in der Gedenkstätte Sachsenhausen Polizei protestierende Antifaschisten abdrängte, antwortete in Buchenwald der KZ-Überlebende Emil Carlebach dem CDU-Minis-terpräsidenten Vogel, der die Selbstbefreiung der Häftlinge als kommunistische Legendenbildung denunziert hatte. Emil Carlebach erklärte unter dem Beifall der tausender Kundgebungsteilnehmer: »Es soll vergessen gemacht werden, wer tatsächlich mit den Verbrechern und ihrem Terrorregime zusammengearbeitet hat.«

27. Januar wird neuer Gedenktag

Der damalige Bundespräsident Roman Herzog reagierte auf diese gesellschaftliche Stimmung und erklärte 1996 den 27. Januar, den Tag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee, zum nationalen Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus. Die VVN-BdA betonte damals: »Wer des 27. Januars gedenkt, muss den 30. Januar mitdenken«. Es musste darum gehen, dass nicht nur die Erinnerung an das faschistische Massenverbrechen an Juden, Sinti und Roma und Slawen gepflegt wird, sondern auch die Errichtung faschistischer Herrschaft zu thematisieren ist.

Diese Sorge war mehr als berechtigt, denn in der Konsequenz wurden von nun an staatliche Formen des Gedenkens an das Jahr 1945 auf den 27. Januar fokussiert. Regelmäßig fanden Feierstunden im Deutschen Bundestag statt, verschiedene Zeitzeugen bekamen die Möglichkeit, an diesem Datum ihre Sicht höchst offiziell vorzutragen. So wurde auf staatlicher Ebene versucht, die gesellschaftliche Auseinandersetzung um den 8. Mai als Tag der Befreiung in den Hintergrund zu drängen. Und die Bundesregierung unter Angela Merkel machte dies auch international deutlich. Man nahm an Feiern zum D-Day in der Normandie teil, fuhr zum 1. September nach Polen, weigerte sich aber, den Einladungen zum 9. Mai nach Moskau zu folgen.

Solche Ambivalenzen im Umgang mit der Gedenk- und Erinnerungspolitik und insbesondere mit dem 8. Mai sind auch auf regionaler Ebene festzustellen. Auf der einen Seite finden zahlreiche Veranstaltungen statt, bei denen der Opfer der faschistischen Politik gedacht wird. Nicht nur der 27. Januar, auch regionale und überregionale Gedenkanlässe werden genutzt. Bei der inhaltliche Ausrichtung dieses Gedenkens werden die Täter und gesellschaftlich Verantwortlichen allerdings oftmals ausgeblendet. Diese Lücke schließen seit vielen Jahren immer mehr zivilgesellschaftliche Initiativen, an denen die VVN-BdA aktiv beteiligt ist. Sie leisten nicht nur für die Gedenkpolitik, sondern auch für die historische Betrachtung einen wichtigen Beitrag, So geraten die Reichspogromnacht, die Erinnerung an KZ-Außenkommandos oder andere wichtige Daten und Orte der antifaschistischen Geschichte nicht in Vergessenheit.

Sichtbarer Ausdruck für die Breite und gesellschaftliche Akzeptanz solcher Erinnerungsarbeit ist das Fest zum »Tag des Sieges« am 9. Mai in Berlin im Treptower Park, das längst keine Veranstaltung Einzelner mehr ist, sondern von vielen tausend Menschen besucht wird.

Neben diesen positiven Tendenzen erleben wir seit Jahren zunehmende Angriffe der Rechtskräfte, Antifaschismus und unsere Geschichtsperspektive gesellschaftlich zu diskreditieren, zu denunzieren und zu behindern. Dazu gehören Vorstöße der sächsischen CDU, mit Verweis auf eine »Extremismus-Klausel« zivilgesellschaftliche Initiativen und örtliche Bündnisse gegen Rechts in ihrem Handeln massiv einzuschränken. Nachdem die extrem rechte AfD auf allen Ebenen des parlamentarischen Systems angekommen ist, setzt sie solche Vorstöße gegen alles, was sie unter »Antifa« zusammenfasst, fort. Die AfD startet parlamentarische Anfragen zu antifaschistischen Netzwerken oder zur Förderung von Aktionen gegen Rechts. Anträge zur Mittelstreichung für zivilgesellschaftliche Initiativen sind an der Tagesordnung.

Der Aufschwung der AfD konnte nicht ohne Auswirkungen auf die Debatte um den 8. Mai 1945 bleiben. Erika Steinbach, Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, gab 2018 die Richtung mit der Forderung vor, den 8. Mai 1945 nicht länger als »Tag der Befreiung« zu bezeichnen. Alexander Gauland stimmte seine Partei beim Kyffhäuser-Treffen 2019 auf den 75. Jahrestag der Befreiung mit der Bemerkung ein, »wir (haben) das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen«.

Der Vertreter des neofaschistischen Flügels, Björn Höcke, propagiert in aller Offenheit eine »180 Grad Wende« in der Geschichtspolitik. Man müsse sich vom deutschen »Schuldkult« verabschieden, heißt es ganz im Sinne der Diktion des neofaschistischen Geschichtsrevisionismus. Dieser Linie folgte der Brandenburger AfD-Landtagsabgeordnete Christoph Berndt mit der Behauptung, der 8. Mai sei »kein Tag der Freiheit für uns« gewesen. Auch Klaus-Dieter Kobold von der AfD im Erfurter Stadtparlament formulierte seine Geisteshaltung so: »Es war eine schandhafte Niederlage … Aber es war kein Tag der Befreiung, sondern ein Tag der neuen Besetzung mit 40-jähriger russischer Diktatur.«

Noch wird solcher Geschichtsrevisionismus in den öffentlichen Debatten mehrheitlich zurückgewiesen. Aber die Rahmenbedingungen für antifaschistische Erinnerungspolitik auf staatlicher oder kommunaler Ebene werden zunehmend schwieriger. Dazu trägt nicht zuletzt ein Beschluss des Europäischen Parlaments vom 19. September 2019 bei, der unter der wohlklingenden Überschrift: »Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas« einen massiven Angriff auf die antifaschistische Gedenk- und Erinnerungspolitik darstellt.

Ohne jede historische Fundierung beschloss die große Mehrheit der EU-Abgeordneten, dass sich Geschichte anders abgespielt hat, als es in Wirklichkeit war. So sei der Zweite Weltkrieg durch das Deutsche Reich und die Sowjetunion begonnen worden, alle Ereignisse bis zum August 1939 hätten darauf keinen Einfluss. Die Länder Osteuropas seien nicht vom Faschismus befreit worden, sondern mit dem Vormarsch der sowjetischen Streitkräfte habe eine neue, Jahrzehnte lange Unterdrückung begonnen. Das russische Volk sei bis heute unterdrückt, weil es sich nicht von den »Geschichtsmythen« der Regierenden befreien könne.

Massiv wie zu Zeiten des Kalten Krieges wird Geschichte instrumentalisiert und aus geostrategischen Gründen die Europäische Union gegen eine wahrheitsgemäße Sicht auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges positioniert.

Erfreulicherweise regt sich gegen diese skandalöse Resolution in vielen europäischen Ländern gesellschaftlicher Widerspruch. Diese Resolution macht aber deutlich, auf wie vielen politischen 
Ebenen Einfluss auf die historische Sicht und die gesellschaftliche Erinnerungspolitik genommen wird.

Vermächtnis des 8. Mai aktueller den je
Vor dem Hintergrund solcher Tendenzen ist es für Antifaschisten heute unabdingbar, sich der Wurzeln unserer gemeinsamen Arbeit, nämlich der politischen Vermächtnisse der Überlebenden zu vergewissern. Und so bleiben die gemeinsamen Aussagen der befreiten Häftlinge der Konzentrationslager auch 75 Jahre später immer noch von hoher Aktualität. In dem weltberühmten Schwur von Buchenwald vom 19. April 1945 heißt es: »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.« Einen Monat später erklärten die Überlebenden des KZ Mauthausen: »Auf den sicheren Grundlagen internationaler Gemeinschaft wollen wir das schönste Denkmal, das wir den gefallenen Soldaten der Freiheit setzen können, errichten: Die Welt der freien Menschen. Wir wenden uns an die ganze Welt mit dem Ruf: Helft uns bei dieser Arbeit. Es lebe die internationale Solidarität! Es lebe die Freiheit!«

In diesen wenigen Sätzen waren bereits die Kernpunkte aller antifaschistischen Programme für einen Neubeginn enthalten. Sie sind untrennbar mit dem 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung verbunden 
und bleiben Zukunftsvision für antifaschistische Arbeit. Es wäre ein wichtiges Signal, wenn 40 Jahre nach der eindrucksvollen Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker und 25 Jahre nach dem Gedenktag am 27. Januar nun auch der 8. Mai in die Liste der offiziellen Gedenk- und Feiertage aufgenommen würde. Das wäre ein Signal für die Wertschätzung des antifaschistischen Vermächtnisses.

In den vergangenen Jahren gab es mehrfach Vorstöße, den 8. Mai zu einem offiziellen Gedenktag zu erklären. In Mecklenburg–Vorpommern gelang dies bereits vor einigen Jahren, in Berlin hat die Landesregierung den 8. Mai 2020 zu einem einmaligen Feiertag erklärt. In Hessen und Thüringen haben der DGB und die VVN-BdA die Regierenden aufgefordert, in diesem Jahr den 8. Mai zum offiziellen Gedenktag zu erklären.

Mitte März informierte das Bundespräsidialamt, dass der zentrale Staatsakt zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai in Berlin 
abgesagt ist. Wegen des historischen Datums werde es auch keine Verschiebung geben. Kam der 
Bundesregierung die Corona-Pandemie gelegen, sich einer unangenehmen Pflicht zu entledigen?

Dieses »Spezial« ist als Sonderdruck erhältlich. Kostenlos zu beziehen über die Bundesgeschäftsstelle der VVN-BdA e.V., Magdalenenstraße19, 10365 Berlin