Die Situation ist eine Schande

8. Juni 2020

Ein Gespräch über die Lage für Geflüchtete auf Lesbos

antifa: Ihr beobachtet seit Wochen die Situation von Geflüchteten in Griechenland, insbesondere im Flüchtlingscamp Moria auf der Insel Lesbos. Wie stellt sich die Lage derzeit, Mitte April, aus Eurer Sicht dar?

Toni: Die Situation ist menschenunwürdig und eine Schande, wenn man sieht, was Geflüchtete in Moria erdulden müssen. Moria war einmal für 3.000 Leute geplant. Es handelt sich um eine alte Militäreinrichtung, in der derzeit rund 24.000 Menschen leben. Davon sind die wenigsten in Containern untergebracht. Überall gibt es selbstgebauten Hütten aus Planen und Paletten. Die Infrastruktur ist völlig überlastet. Über 5.000 Menschen sind komplett ohne Zugang zu Wasser, Strom und sanitären Einrichtungen. Alles ist eng, die Hygiene ist miserabel.

antifa: Was hat die Verschärfung der Corona-Pandemie für Auswirkungen?

Toni: Bei den Geflüchteten ist eine große Angst entstanden. Es gibt keine Chance, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Alles was bisher passiert ist, sind eher Verzweiflungsakte. So hat sich ein »Moria-Corona-Awarenessteam« von Geflüchteten gebildet, die sich um Aufklärungsarbeit bemühen. In einem Teil des Camps wurde selbstverwaltet eine Art Krankenhaus aus Zelten gebaut. Wenn Coronafälle auftreten, soll dort notdürftig eine Isolierstation entstehen.

antifa: Was sind die wichtigsten Punkte, die sich jetzt ändern müssten?

Toni: Das Camp muss evakuiert werden, die Situation lässt sich anders nicht verbessern. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Corona auch hier ausbricht. Die medizinische Infrastruktur ist so schlecht auch wegen der jahrelange Kürzungspolitik der Troika, dass es zu einem Zusammenbruch der medizinischen Lage kommen würde.

antifa: Eine weitere Gefahr für die Geflüchteten auf Lesbos ist rechte Gewalt …

Toni: Ja, auch die Stimmung gegenüber Journalist*innen und Mitarbeiter*innen von NGOs ist sehr aggressiv. Gegen Geflüchtete gab es bereits pogromartige Angriffe. Ausführlich wurde ja in europäischen Medien über illegale Pushbacks berichtet und von Versuchen, Schlauchboote zu versenken. Rechte wurden auch aktiv, um zu verhindern, dass ankommende Boote anlegen konnten. Die rassistische Gewalt gegen Geflüchtete geht jedoch nicht nur von Nazis, sondern ebenso stark von der Polizei aus. Verstärkt wird die Entwicklung noch dadurch, dass keinerlei Repression gegen den rechten Mob wahrzunehmen ist.

antifa: Welche Rolle spielen Athen und Brüssel?

Toni: Seit fünf Jahren ist die katastrophale Lage auf Lesbos ein Dauerzustand. Allein 2015 haben 400.000 Leute die Insel als Transitstation nutzen müssen. War Lesbos anfangs ein Transitort, gibt es inzwischen sehr viele Geflüchtete, die seit Jahren hier leben und festhängen. Das ist aber nur die eine Seite. Dann gibt es auch ein seitens der EU befeuertes Narrativ: Durch die weitere Militarisierung der Außengrenzen und den Ausbau der Festung Europa brennt sich auch in die Köpfe der Leute ein, die Geflüchteten selbst wären für sie eine Bedrohung. Mittlerweile hat Seehofers Ministerium ja verlauten lassen, dass die BRD jetzt doch 50 Kinder aufnehmen will. Andere Staaten ziehen mit ähnlich lächerlichen Kontingenten nach. Es sei für die NGOs unmöglich gewesen, mehr gefährdete Kinder zu finden, war die schamlose Lüge, die von Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen) auch sofort widerlegt wurde.

antifa: Wie lässt sich aus antifaschistischer Perspektive intervenieren und inwiefern arbeitet ihr mit Aktiven vor Ort zusammen?

Toni: Ein großes Pro-blem ist, dass der Mythos der roten und antifaschistischen Insel Lesbos in den vergangenen Jahren verlorengegangen ist. Der Rückhalt der Linken in der Bevölkerung schwindet. Das kommt vor allem durch die Strategie der Neonazis, sich als patriotische Retter zu verkaufen. Damit die antifaschistische Linke aus der Defensive kommen kann, müssen auf der Insel solidarische Netzwerke reaktiviert und aufgebaut werden. Ein Miteinander gegen Hetze muss dem Rassismus entgegengestellt werden. Entsprechend muss die Region auch einen bedeutenderen Stellenwert in der europäischen, antifaschistischen Bewegung bekommen.

Toni ist aktiv in der Undogmatischen Radikalen Antifa (URA) Dresden. Zum Zeitpunkt des Gesprächs Mitte April befand er sich in der Stadt Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos. Angesichts der Berichterstattung über die Situation für Geflüchtete auf Lesbos und den Attacken von Neonazis und anderen teils europaweit angereisten rechten AktivistInnen, machten sich mehrere Mitglieder der URA im März kurzfristig auf den Weg. Sie wollen antirassistische und antifaschistische Solidarität zeigen.

Das Interview führte Andreas Siegmund-Schultze