Von Faschismus reden

geschrieben von Regina Girod

24. Juli 2020


Mathias Wörsching analysiert Faschismustheorien

Ist Jair Bolsonaro ein Faschist? Er bezieht sich gern auf Hitler, Mussolini oder Franco und hätte selbst wahrscheinlich nichts dagegen, so genannt zu werden. Doch heißt das auch, dass in Brasilien bereits Faschismus herrscht? Darüber gehen die Meinungen stark auseinander. Vor allem für seine Gegner ist die Antwort dennoch wichtig. Strategie und Taktik, Kampfformen und Bündnispartner hängen davon ab.

Bereits seit hundert Jahren steht die Menschheit vor diesen Fragen: Was ist Faschismus? Wer trägt ihn und wie kann man ihn bekämpfen? Philosophen, Ökonomen und Historiker, Soziologen, Politologen und Psychologen haben Theorien dazu entwickelt. Ob ihre Konzepte überdauerten und wirkungsmächtig wurden, hing vor allem davon ab, ob politische Akteure sie übernahmen und in ihre Praxis übersetzten. Oft wurden die Theorien vereinfacht, manchmal aus politischen Erwägungen heraus negiert oder gar bekämpft. Die Auseinandersetzung mit Faschismustheorien ist ohnehin ein komplexes Unterfangen. Historische Linien durchdringen sich mit thematischen und politischen Linien. Kontinuitäten und Brüche in der Theorieentwicklung hängen von Bedingungen der Zeitgeschichte ab. Jede neue Generation von Wissenschaftlern und Politikern stellt eigene Fragen an die Geschichte. Eines zeigt die Erfahrung von hundert Jahren Theorieentwicklung jedoch klar: Es gibt keine einzig richtige und wahre Theorie vom Faschismus. In kleinen Schritten nähert sich die theoretische Erkenntnis den höchst komplexen Zusammenhängen faschistischer Formierung von Gesellschaft an. Daraus folgt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Faschismustheorien ohne politische Tabus und Vorurteile erfolgen muss. Keine Richtung hat die Wahrheit für sich allein gepachtet. Ein breiter wissenschaftlicher Diskurs über unterschiedliche Horizonte hinweg steht noch aus. Hinzu kommt, dass selbst der historische Faschismus in normalen Bildungsgängen kaum noch behandelt wird, ganz zu schweigen von der Rezeption theoretischer Konzepte über ihn. Dadurch droht bereits Erkanntes und Gedachtes in Vergessenheit zu geraten. Angesichts des Erstarkens der extremen Rechten überall in der Welt ein gefährlicher Verlust.

Mathias Wörsching stellt sich dieser Tendenz mit seinem Band »Faschismustheorien. Überblick und Einführung« entschieden entgegen. Erschienen ist der Essay in der Reihe »theorie.org« im Schmetterling Verlag. Wörsching ist es gelungen, einhundert Jahre Theorieentwicklung in gut lesbarer Form auf 230 Seiten abzuhandeln. Ein ungeheuer anregendes und widersprüchliches Werk, das eine breite Diskussion verdient. Den oben beschriebenen Knoten aus historischen, thematischen und politischen Linien versucht Wörsching zu entwirren, indem er eine historische Linie von den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bis zur Gegenwart verfolgt. Dabei werden einzelne, vor allem marxistische oder vom Marxismus kommende, Theoretiker genauer betrachtet und zum Schluss neueste Theorien behandelt. Ausführliche Quellenangaben verleiten dazu, das eine oder andere Buch doch noch selbst zu lesen. Ich habe mir das zum Beispiel für Schriften von Reinhold Opitz und Alfred Sohn-Rethel vorgenommen.

Wörschings Parforceritt durch die Theoriegeschichte weckt die Frage, ob eine Strukturierung des Materials entlang von jenen Themen, die in den meisten Theorien behandelt werden, zum besseren Verständnis beigetragen hätte. Ich denke dabei an Aspekte wie die klassenmäßigen und ideologischen Wurzeln oder die Massenbasis des Faschismus. Der Beweis dafür steht aus.

Für Leserinnen und Leser, die wie ich zur Elterngeneration des Autors gehören, halte ich den Band aus zwei Gründen für empfehlenswert. Zum einen zur Ausweitung des Horizonts, eine Reihe der behandelten Autoren war mir bisher nicht bekannt. Zum anderen als Einübung in Toleranz. Angefangen von der Auswahl der behandelten Theoretiker über kurze abwertende Seitenhiebe auf ehemals Verdiente bis hin zu den besonders oft Zitierten ist das Buch ein Beweis für die These, dass jede Generation ihren eigenen Blick auf die Geschichte hat. Es werden andere Fragen gestellt und andere Autoritäten verehrt. Das bedeutet nicht, dass entweder die Jungen oder die Alten mehr Recht hätten und es besser wüssten (was beide gelegentlich annehmen). Es bedeutet vielmehr, dass man in Diskussionen auf Augenhöhe gemeinsam Argumente austauschen und abwägen muss, um den Reichtum menschlicher Erkenntnis zu mehren.

Wer das Buch als Einstieg zur Beschäftigung mit Faschismustheorien nutzen will, sei gewarnt: Dies ist kein Lehrbuch, es ersetzt nicht die eigene Standpunktbildung.

Manchmal scheint der Autor in seinem als wissenschaftlichen Essay angelegten Text beinahe zu verschwinden. Doch natürlich sind es seine Auswahl, seine Wertungen und sein Konzept, die präsentiert werden. Mathias Wörsching hat ein wichtiges Buch vorgelegt. Die Diskussion ist 
eröffnet.

Mathias Wörsching: Faschismustheorien. Überblick und Einführung. Schmetterlingsverlag, 240 Seiten, 12 Euro