Gesellschafts-Psychogramm

geschrieben von Axel Holz

27. Juli 2020

Die Fokussierung der Schuld auf die NS-Elite verdeckt die der eigenen Familie

In einem Essay thematisiert der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn die kollektive Unschuld der Deutschen, die sich in der Abwehr der Shoah im Erinnern manifestiere. Er zeigt mit seinem Buch, dass im bundesdeutschen Selbstbild die Schuld- und Erinnerungsabwehr, die Selbststilisierung als Opfer und die antisemitische Projektion schon immer und bis heute hartnäckig praktiziert wird. Salzborn verleiht dem Thema dabei eine Schärfe, die es in der deutschen Diskussion so noch nicht gab.

Verantwortungsabwehr statt Aufarbeitung

Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, der Abschied vom eigenen Opfermythos und die Auseinandersetzung mit der antisemitischen Täterschaft finde in den Familiengeschichten der Bundesrepublik faktisch nicht statt. Auch die Tatsache, dass zahlreiche Tätergeschichten mittlerweile durch kritische Familienangehörige in den letzten Jahrzehnten auf dem Buchmarkt aufgetaucht sind, ändere nichts an dieser Tendenz. Salzborn spricht sogar von einer linksliberalen Elite, die die NS-Aufarbeitung irrtümlich in der Masse der Bevölkerung angekommen glaubt, die es so aber nicht gebe. Die bundesdeutsche Erfolgsgeschichte von der Aufarbeitung des Holocaust sei die größte Lüge der Bundesrepublik. Tatsächlich sei eine »Selbstinfantilisierung« und Verantwortungsabwehr erfolgt. Geschichtsvergessenheit habe uns durchgehend begleitet, von der Inszenierung der Deutschen als Opfer, der anhaltenden Sehnsucht nach Unschuld bis zur Geschichtsrelativierung. In den frühen Debatten und Straffreiheitsregelungen, bei der Thematisierung von Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg, durch Ausstellungsprojekte der Staufer- und Preußenausstellung, in der Diskussion um das »Zentrum für Flucht und Vertreibung« oder durch die massive Ungleichgewichtung zu Gunsten von Erinnerungsorten der DDR-Geschichte gegenüber dem NS-Gedenken komme dies systematisch zum Ausdruck.  Die klassische Täter-Opfer-Verdrehung sei bis heute ein fester Bestandteil der familiären NS-Aufarbeitung.

Ferne Täter – nahe Opfer

Nach wissenschaftlichen Schätzungen soll es nur 200.000 Menschen gegeben haben, die Naziopfern geholfen haben. Laut einer Studie des Instituts für interdisziplinäre Konfliktforschung der Universität Bielefeld dichten aber 28,7 Prozent der Deutschen ihren Vorfahren eine Helfer-Vita an und 68,9 Prozent der Befragten glauben, dass ihre Angehörigen nicht unter den Tätern zu finden sind. 35,9 Prozent der Befragten denken sogar, ihre Angehörigen seien selbst zu den Opfern zu zählen. Die mangelhafte Schuldauseinandersetzung wird auch durch eine kulturelle NS-Aufarbeitung gestützt. Trotz Sternstunden wie »Der Stellvertreter«, »Shoah«, »Schindlers Liste« oder »Das Leben ist schön« finden sich eher entgegengesetzte Tendenzen. Bis heute werden die Nazi-Täter häufig als menschlich-liebenswerten Gestalten gezeigt, um sich mit ihnen identifizieren zu können und die familiäre Schuldabwehr bestätigt zu finden. Typische  Beispiele dafür sind Mainstream-Produktionen wie »Die Flucht«, »Der Untergang«, »Die Gustloff« oder »Unsere Mütter, unsere Väter«. Jeder Deutsche wisse um die Vielzahl der Täterinnen und Täter, aber diese blieben abstrakt. Es werde nicht erkannt,  dass vielfach die eigenen Eltern und Großeltern die Täter waren. Bereits 2002 hatte Harald Welzer zusammen mit weiteren Autoren in der familienbiografischen Studie »Opa war kein Nazi« gezeigt, wie zahlreiche Deutsche ihre Täterschaft in Opfer oder Widerstandskämpfer umdefinieren. Die massenhafte Abschiebung der eigenen Verantwortung auf Hitler, die NS-Elite, die Kriegsverbrecher, SS, Gestapo oder NSDAP hat die eigene Rolle der Vorfahren im NS-Staat systematisch aus dem Fokus genommen.

Individuelle Schuld unterbelichtet

Salzborn stellt Fragen nach der individuellen Schuld der Menschen in der NS-Diktatur, die so noch nicht öffentlich gestellt wurden. Es  geht dabei um Erinnerungsverweigerung einer Schuld in vielfältigem Sinne der betroffenen Erlebnisgeneration: die Schuld, den offensichtlichen Lügen der Nazis geglaubt zu haben; die Schuld, bei Juden nicht eingekauft zu haben oder die Straßenseite gewechselt zu haben, um dem Nachbarn nicht zu begegnen; die Schuld, Freundschaften beendet zu haben, Ehepartner verlassen und Menschen denunziert zu haben. Die Aufzählung ließe sich fortführen. Salzborn hat eine Debatte entfacht, die analytisch tief geht und niemanden schont. Er verweist die Mehrheit der Deutschen auf ihre individuelle Schuld im NS-Regime und zugleich uns auf unsere Verantwortung für heutige Entscheidungen.

Trotz zahlreicher Fortschritte bei der massenhaften Konfrontation der Bevölkerung mit der Shoah in den 70er Jahren und der Aufarbeitung der Opfergruppen und einer neuen Gedenkkultur ab den 90er Jahren, erfolgt eher ein Rückfall in alte Muster der Selbstverherrlichung, Schuldumkehr, Entkontextualisierung und Geschichtsrelativierung.

Bis heute sehen die Mehrheit der deutschen Vertriebenenfamilien und die medialen Darstellungen vor allem die Opferrolle der Betroffenen. Dabei hatten die meisten an der völkischen Germanisierungspolitik mitgewirkt oder sie toleriert. Damit schufen sie die Grundlage für die spätere völkerrechtskonforme Vertreibung.

Samuel Salzborn: »Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern«
Berlin/Leipzig, Hentrich & Hentrich Verlag, 136 Seiten, 15 Euro