Unbekannte Opfer

geschrieben von Hans-Bert Reuvers

30. Juli 2020

Vergessene Täter

Wenn man in Bad Tölz von der Isarbrücke kommend die sehr schön gestaltete Marktstraße hinaufgeht und dann weiter über die Salzstraße zur Mühlfeldkirche, passiert man ein Mahnmal, das 14 anonymisierte Figuren zeigt, die sich mühsam gebeugt voranschleppen. Ein Mahnmal zum Gedenken an den Dachauer Todesmarsch im Mai 1945.

Es ist erstaunlich, dass die Stadt Bad Tölz die Errichtung des Mahnmals gestattete. War es doch die Stadt, die einen Berg nach Hitler benannte, die stolz auf die SS-Junkerschule war und die es bis heute nicht geschafft hat, die Hindenburgstraße umzubenennen.

75 von insgesamt 282 Seiten sind in dem neu erschienenen Buch »Mörderisches Finale« den Todesmärschen der KZ-Häftlinge und weiterer Tatorte der Verbrechen im gesamten Reich gewidmet, aufgelistet in alphabetischer Reihenfolge von Aachen bis Wuppertal. Das Buch, das 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einer überarbeiteten Ausgabe im PapyRossa Verlag erschienen ist, aktualisiert die Erkenntnisse des 2008 erstmalig erschienenen Buches. Dabei bilden die Verbrechen im Rheinland und Westfalen die Schwerpunkte. Da sich bis dahin die offizielle Historikerzunft bei der Erforschung dieser historischen Phase vornehm zurückgehalten hatte, haben sich unter der Federführung von Ulrich Sander Journalisten, Geschichtswerkstätten und antifaschistische Erinnerungsarbeiter/innen dieser grausigen Verbrechen der letzten Kriegsmonate angenommen.

Es ist ein »schreckliches« Buch. Vor allem die Berichte über Folter von Widerstandskämpfern im Dortmunder Polizeigefängnis und die Zustände in den Kellerräumen unterhalb der Vergüterei auf dem Gelände des Dortmund-Hörder Hüttenvereins und der Westfalenhütte sowie die grausamen Hinrichtungen sind alptraumhaft.

Dass Menschen in Krisenzeiten zu Extremen neigen, ist bekannt.

Da ist auf der einen Seite der Heroismus der gefolterten Widerstandskämpfer, auf der anderen das Denunziantentum von »normalen Bürgern« und die bestialische Grausamkeit der Nazischergen. Doch dies allein kann kaum als Grund für die Massenvernichtung in den letzten Monaten des Krieges geltend gemacht werden.

Näher kommt man sicher den Gründen, wenn man den vertraulichen Aussagen des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, glauben darf. Er erklärte am 5. März 1945: » Wenn das nationalsozialistische Deutschland zugrunde gehen soll, dann sollen unsere Feinde, die Verräter am großgermanischen Gedanken, die jetzt in den Konzentrationslagern sitzen, nicht den Triumph erleben, als Sieger herauszugehen. Sie werden den Tag nicht erleben.«

Die Furcht vor einem antifaschistisch-demokratischen Nachkriegsdeutschland oder gar vor einer Rätedemokratie wie zur Zeit der Novemberrevolution 1918 am Ende des Ersten Weltkriegs bestimmte das strategische Denken der Nazigrößen wie der Vertreter des deutschen Monopolkapitals.

Auch die, die Hitler zur Macht verhalfen und unermessliche Profite in der Kriegswirtschaft nicht zuletzt durch die Arbeitssklaven aus den besetzten Gebieten Europas scheffelten, werden namentlich benannt.

Das Buch ist eine auch den professionellen Historiker überzeugende Dokumentation der Verbrechen der Nationalsozialisten gegen Kriegsende. Es entstand durch emsige Arbeit in Archiven, eine Vielzahl von Augenzeugenberichten und auf der Basis eines breiten Netzwerkes von Antifaschisten und Antifaschistinnen unter dem Dach der VVN-BdA. Es ist ein bewegendes, erschütterndes und zugleich empörendes Buch über Unmenschlichkeit, menschenverachtende Profitsucht und Versagen der Justiz im Nachkriegsdeutschland der Adenauer-Zeit. Die erheblichen Unterschiede zwischen den in den Prozessen gegen die Nazimörder verlangten Haftstrafen der Staatsanwaltschaft und den Richterurteilen sprechen Bände. Hinzu kommt, dass durch die sogenannten Amnestiegesetze die Haftstrafen verkürzt, wenn nicht ganz ausgesetzt wurden.

Dabei folgte die Rechtsprechung der Praxis der Entnazifizierung, über die Sonja Zekri in den »Ruhrnachrichten« vom 1. April 1994 das vernichtende, jedoch zutreffende Urteil fällt: »Die Zeit arbeitete für die Gestapo. Mit der neuen Kluft zwischen West und Ost verloren die englischen Alliierten spürbar das Interesse an einer Aburteilung. Schließlich sollten die Beamten den neuen deutschen Staat, der als Puffer gegen den Kommunismus funktionierte, stabilisieren.«

Ulrich Sander, Mörderisches Finale : NS-Verbrechen bei Kriegsende, Papy Rosa, 282 Seiten, 16,90 Euro