Kontinuitäten und Brüche

geschrieben von Jakob Knab

6. Oktober 2020

Jakob Knab über Sinnstiftung und Traditionspflege in der Bundeswehr

Die Aufarbeitung der Geschichte ist auch ein Kampf um die Deutungshoheit über die Vergangenheit. Bereits im September 1955, also zwei Monate vor der Gründung der Bundeswehr, wurde die ehemalige NS-Ordensburg in Sonthofen (Allgäu) neu benannt in »Generaloberst-Beck-Kaserne«.

Schon damals trat die Spaltung zwischen Reformern und Traditionalisten zutage. Kopf der Traditionalisten war General Josef Kammhuber. Er verordnete der Luftwaffe einen rückwärtsgewandten Heldenkult. Für ihn waren Boelcke, Immelmann und Richthofen, die Fliegerasse des Ersten Weltkrieges, Ideale in höchster Vollendung. Jahre später knüpfte er an Lent, Mölders und Marseille an, den hochdekorierten Fliegerhelden des Zweiten Weltkrieges.

Als Verteidigungsminister Strauß aufgrund der SPIEGEL-Affäre zurücktreten musste, wurde im Januar 1963 Kai-Uwe von Hassel sein Nachfolger. Nun konnte sich der völkisch-reaktionäre und nostalgische Heldenkult Bahn brechen. Im Volksmund sprach man von der »neuen Wehrmacht«. Die Traditionalisten waren auf dem Vormarsch. Als der Afrika-Krieger Lettow-Vorbeck im März 1964 zu Grabe getragen wurde, konnte Minister von Hassel verkünden, der Verstorbene sei »wahrlich im Felde unbesiegt« geblieben.  Und als der ehemalige General der Waffen-SS Hans Jüttner im Mai 1965 in Bad Tölz beerdigt wurde, hielt Hassel eine »würdige Grabrede«. Freilich: Der Minister hatte die falschen geschichtspolitischen Signale gesetzt. 
Er sah sich gezwungen, den völkisch-reaktionären Wildwuchs einerseits einzuhegen, aber auch nachträglich zu rechtfertigen. Am 1. Juli 1965 unterzeichnete von Hassel einen Traditionserlass, der ohne die Wehrmacht auch nur zu erwähnen, dieselben »zeitlosen« soldatischen Tugenden zum Kriterium der Traditionswürdigkeit machte wie weiland die Wehrmacht: Unerschrockenheit, Mut und Tapferkeit vor dem Feinde. Gut zwei Dutzend Kasernen wurden bei dieser Traditionsoffensive 1964/65 nach den Helden von Hitlers Angriffs- und Vernichtungskrieg benannt. Die schlimmsten Entgleisungen leisteten sich dabei die »Gebirgsjäger«: Dietl in Füssen, Kübler in Mittenwald sowie Konrad in Bad Reichenhall. In einer Weisung von General Konrad vom 7. März 1943 hieß es unverblümt: »Die Juden sind unser Unglück. Warum wir Krieg führen (Kampf gegen den Weltfeind – das Judentum).« Zehn Jahre später, im Mai 1953, trafen sich 10.000 Gebirgsjäger (»Kameraden unter’m Edelweiß«) in München zum »Tag der Treue«. In Erwartung der Wiederbewaffnung sprach man bereits zukunftsfroh von der »neuen Wehrmacht«. Konrad war der Anführer der Veteranen: »Wir hoffen, daß in der neuen Schale die gleichen Männer, die alten Soldaten stecken, die einst Kraft und Ruhm des deutschen Heeres und Stolz des deutschen Volkes waren.« Nach Protesten aus der Zivilgesellschaft wurde im August 2012 die Konrad-Kaserne in Bad Reichenhall umbenannt in »Hochstaufen-Kaserne«.

Im Mai 1964 wurde die ehemalige »Ludendorff-Kaserne« Mittenwald umbenannt in »General-Kübler-Kaserne«. Dem Hitler-Putschisten folgte ein verurteilter Kriegsverbrecher als Kasernenpatron! Korpsbefehl Küblers vom 24. Februar 1944: »Terror um Terror! Im Kampf ist alles richtig und notwendig was zum Erfolg führt.« Am 10. Juli 1947 wurde er von der Militärstrafkammer in Ljubljana (Slowenien) zum Tod durch den Strang verurteilt und am 
18. August 1947 hingerichtet. Nach einem öffentlichen Meinungskampf verfügte Minister Rühe (CDU) am 9. November 1995 die Umbenennung der Liegenschaft in »Karwendel-Kaserne«.

Im Mai 1964 wurde die Kaserne in Füssen (Allgäu) nach Dietl benannt. Dies war die schlimmste Entgleisung der Militaristen und Traditionalisten. Denn fast auf den Tag genau 25 Jahre lang war Dietl ein treuer Gefolgsmann seines »Führers«: »Als fanatischer Nationalsozialist«, so Hitler in seinem Tagesbefehl vom 1. Juli 1944 für den tödlich verunglückten Gebirgsjäger, »hat sich Generaloberst Dietl in unwandelbarer Treue und leidenschaftlichem Glauben seit Beginn des Kampfes unserer Bewegung für das Großdeutsche Reich persönlich eingesetzt. Ich verliere deshalb in ihm einen meiner treuesten Kameraden aus langer, schwerer, gemeinsamer Kampfzeit.« Und Hitlers Wunsch, dass Dietls Name »in seiner stolzen Gebirgsarmee weiterleben wird«, ging 20 Jahre später in Erfüllung.

Beim Staatsakt für den im Oktober 1944 tödlich verunglückten Lent rühmte Reichsmarschall Göring dessen »unvergängliches Heldentum«. 20 Jahre später, im Juli 1964, wurde die Kaserne in Rotenburg (Wümme) auf Betreiben von General Kammhuber nach Oberst Lent benannt. Es war jener Kammhuber, der sich zusammen mit seinem Kameraden Dietl vom Infanterie-Regiment 19 beim Hitler-Putsch im November 1923 geweigert hatte, die junge Republik zu verteidigen.

Im November 2013 begann der öffentliche Meinungskampf um Lent. Der Standort rang um die Traditionswürde seines Kasernenpatrons; in einer großen Umerzählung wurde Nachtjäger Lent zum Verteidiger deutscher Frauen und Kinder gegen feindliche Bombergeschwader. Tatsächlich hatte er am 22. Juni 1944, dem dritten Jahrestag des Angriffs auf die Sowjetunion, vom Endsieg gesprochen und seine Männer dazu aufgerufen, »in leidenschaftlicher und fanatischer Weise bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen.« Nach sieben Jahren Auseinandersetzung wurde die Kaserne im Juni 2020 umbenannt in »von-Düring-Kaserne«.

General Fahnert, der ehemalige Kasernenpatron von Karlsruhe, war ab September 1904 sowohl bei der Niederwerfung des Aufstandes der Nama und Hereros als auch ab Herbst 1941 bei der Blockade von Leningrad dabei. Fahnerts Apologetik wurde von den alten Kameraden begierig aufgegriffen: »Hitler wollte nur das Beste für das deutsche Volk.« Aufgrund von Protesten aus der Zivilgesellschaft 

wurde diese Liegenschaft im Oktober 2016 umbenannt in »Kirchfeld-Kaserne«.

Im Dezember 1982 starb Rudel, höchstdekorierter Pilot in Görings Luftwaffe, Ikone des Nationalsozialismus und der rechten Szene im Nachkriegsdeutschland. Insgesamt 2.500 Personen aus dem rechten Spektrum waren bei Rudels Beerdigung in Mittelfranken dabei. Auch Soldaten der Bundeswehr in Uniform nahmen teil. Der Tiefflug in der Formation »Missing Man« beim Rudel-Begräbnis war eine letzte Ehrenbezeugung der Bundeswehr für den toten Stuka-Helden.

In den letzten Tagen der Regierung Schmidt-Gen-scher unterzeichnete Minister Hans Apel (SPD) am 20. September 1982 die neuen Richtlinien zur Traditionspflege. Hier der Kernsatz: »Ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen.« Umgehend wurde dieser Erlass massiv angefeindet. Denn Kohl hatte angekündigt, mit dem Machtwechsel eine »geistig-moralische Wende« zu vollziehen. Im Oktober 1982 wurde Manfred Wörner (CDU) neuer Bundesminister der Verteidigung. Wörner stärkte das Milieu der Traditionalisten.

Als ausgerechnet am 30. April 1985 – an Hitlers 40. Todestag – die Kaserne der Bundeswehr in Hof (Saale) nach General Hüttner benannt wurde, da war dies ein absichtsvoller Verstoß gegen die gültigen Richtlinien. In der Wehrmacht galt Hüttner als ein soldatischer Führer, der »vom Nationalsozialismus erfüllt« sei. Nach einem öffentlichen Meinungskampf wurde die Liegenschaft im Juli 2013 umbe-nannt in »Oberfranken-Kaserne«.

Am 2. Oktober 1990, einen Tag vor der deutschen Wiedervereinigung, tilgte der damalige DDR-Verteidigungsminister Rainer Eppelmann auf Weisung der Bonner Hardthöhe alle 299 Traditionsnamen der NVA, darunter Wilhelm Leuschner, Rudolf Breitscheid und Georg Groscurth. Hier entlarvte sich die Fratze des Militarismus: In einem hinhaltenden Abwehrkampf sollte die Traditionswürde des Nazi-Generals und Kriegsverbrechers Dietl über die Runden gerettet werden, gleichzeitig aber wurde das Gedenken an Groscurth mit einem einzigen Federstrich gelöscht. Nur wenigen Lesern wird der Name geläufig sein; denn sein Rettungswiderstand ist in Vergessenheit geraten. Der Arzt versteckte Juden in seiner Wohnung, in seiner Privatpraxis und in der Moabiter Klinik. Zusammen mit seiner Frau Anneliese wurde Groscurth am 4. September 1943 verhaftet und am 16. Dezember 1943 im Namen des Volkes zum Tode verurteilt. Bevor das Todesurteil am 8. Mai 1944 in Brandenburg-Görden vollstreckt wurde, schrieb Groscurth in seinem Abschiedsbrief: »Denke daran, daß wir für eine bessere Zukunft starben, für ein Leben ohne Menschenhaß.«

Neben dem verstockten Festhalten an Skandalnamen wie Hindenburg, Johannesson und Rommel gibt es Gott-sei-Dank auch begrüßenswerte Entwicklungen in der Traditionspflege. An der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München hat man die Zeichen der Zeit erkannt. Dort wurde Ende März 2011 das Auditorium maximum nach Hans Scholl von der Widerstandsgruppe »Weiße Rose« benannt. »Das letzte Flugblatt der Weißen Rose«, so der Festredner, »spricht vom Kampf für die Zukunft, von Freiheit und Ehre in einem seiner sittlichen Verantwortung bewussten Staatswesen. Hans Scholls letzter Ruf  ›Es lebe die Freiheit!‹ war zunächst vergeblich – sinnlos war er nicht.«

Die Liegenschaft in Garching-Hochbrück (nördlich von München) wurde im November 2019 nach Christoph Probst von der »Weißen Rose« benannt, um in der Erinnerungskultur dessen »Aufrichtigkeit, Mut und Zivilcourage« zu würdigen.

Auch in Blankenburg (Harz) wurden Lehren aus der Geschichte gezogen. Am 22. Juni 2016, dem 75. Jahrestag des Angriffs der Wehrmacht auf die Sowjetunion, wurde die dortige Kaserne nach Feldwebel Anton Schmid, der Ikone des Rettungswiderstandes, benannt. 
Er hatte nahezu 300 Juden in Litauen das Leben gerettet. Er wurde verraten, verhaftet und zum Tod verurteilt und am 13. April 1942 in Wilna (Litauen) erschossen. Die jüdische Gelehrte Hannah Arendt sah in seinen Rettungstaten einen »Lichtstrahl inmitten dichter, undurchdringlicher Finsternis«. Sie verknüpfte damit die Hoffnung, »wie vollkommen anders alles heute wäre, in Deutschland, in ganz Europa, vielleicht in allen Ländern der Welt, wenn es mehr solche Geschichten zu erzählen gäbe.«

Jakob Knab ist der Sprecher der »Initiative gegen falsche Glorie«. Zahlreiche Vorträge und Veröffentlichungen zur Geschichtspolitik, Erinnerungskultur und Traditionspflege, u.a.:
»Falsche Glorie. Das Traditionsverständnis der Bundeswehr« 
(Berlin 1995)«
»Luther und die Deutschen« 
(Bremen 2017)
»Ich schweige nicht. Hans Scholl und die Weiße Rose« 
(Darmstadt 2018).