Geschichte erfahren

geschrieben von Christin Kaspari

24. November 2020

Dokumentation über ein Jugendprojekt in Buchenwald

Contemporary Past – das erste Regieprojekt von Kamil Majchrzak (VVN-BdA Berlin) ist ein dokumentarischer Essay, der nicht nur die Frage nach der ewigen Bewahrung des Erinnerns an den Holocaust stellt, sondern gleichzeitig auch ein Hinterfragen der sogenannten deutschen Erinnerungskultur ist. Beides wird möglich, indem
22 Schüler_innen aus Rumänien, Polen und Deutschland filmisch begleitet werden, wie sie die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald besuchen. Ihre Motive, an der Reise teilzunehmen, sind ganz unterschiedlich. Einigen geht es anfänglich bloß darum, eine gute Zeit weg von Zuhause zu haben. Andere sind in ihrer Schule bereits Teil einer Gruppe, die versucht, über die Diskriminierung von Sinti_zze und Rom_nja in Rumänien aufzuklären. Gemeinsam nähern sie sich der Geschichte Buchenwalds an. Auch, indem sie zu einzelnen Ermordeten persönliche Daten recherchieren und mit diesen Informationen Fundstücke kategorisieren oder Gedenksteine beschriften. Den Rahmen der Dokumentation bilden so das Erleben und persönliche Entwickeln der Schüler_innen.

Intermediales Entwickeln

Majchrzak greift auch auf Videosequenzen der Schüler_innen zurück. Er reiht sich damit ein in ein neues Genre, das versucht, Erinnern intermedial erfahrbar zu machen. Als eindrucksvolle Regieentscheidung bleibt vor allem jene Szene im Gedächtnis, in der die Kamera dabei scheitert, den Appellplatz des KZ Buchenwald in seinem Ausmaß zu zeigen. Kurz darauf folgt eine Drohnenaufnahme vom gesamten Areal. Aufgrund der zeitlichen Reihenfolge wirkt es wie der Versuch einer filmischen Annäherung an die Unmöglichkeit, den Holocaust in seinem Ausmaß zu begreifen.

Unterschiedliche Perspektiven

Contemporary Past – Die Gegenwart der Vergangenheit (D/PL 2019),  Regie & Buch: Kamil Majchrzak, 61 Minuten

Contemporary Past – Die Gegenwart der Vergangenheit (D/PL 2019),  Regie & Buch: Kamil Majchrzak, 61 Minuten

Wie in der Dokumentation »#uploading Holocaust«, die ausschließlich aus Youtube-Filmen israelischer Schüler_innen über Vernichtungsorte besteht, wird auch hier gänzlich auf Archivmaterial verzichtet. Majchrzak bindet aber auch andere Perspektiven ein: Rita Prigmore, Sintize aus Würzburg. Sie hat als Säugling die an ihr durchgeführten Versuche zur Zwillingsforschung überlebt. Nun will sie bei Begegnungen mit Jugendlichen das Bewusstsein für das Schicksal der Sinti_zze und Rom_nja während des Holocausts stärken. Es geht aber auch um die Gegenwart. Sinti_zze und Rom_nja, die erst zur Flucht und dann zur Auseinandersetzung mit der deutschen Abschiebebehörde gezwungen werden oder Sinti_zze und Rom_nja, die in Polen zwangsgeräumt wurden.

Jede Person, die diese Dokumentation gesehen hat, muss es unfassbar finden, dass das Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas zugunsten einer neuen S-Bahn-Trasse zeitweise abgerissen werden soll. Majchrzaks Film kommt zum richtigen Zeitpunkt. Der Streifen macht deutlich, dass die sogenannte Erinnerungskultur hierzulande häufig bloße Heuchelei ist. Nicht nur wird in drastischer Deutlichkeit der Anspruch von Sinti_zzes und Rom_njas auf ein Bleiberecht in Deutschland betont (»Our hearts belong here, because they were buried here.«), sondern auch die rassistische Dimension deutscher Erinnerungskultur aufgezeigt, die nicht selten in Abschiebebescheiden mündet – contemporary past.

Von Objekten zu Subjekten der Erinnerung

Über die Hintergründe des Schüler_innenprojekts oder wie die Schüler_innen zur Teilnahme am Projekt gekommen sind, klärt der Film leider nicht auf. Daraus ergibt sich dann auch seine Schwäche. Nicht fern liegt die Hoffnung, die Schüler_innen repräsentierten einen Querschnitt aller Schüler_innen aus Deutschland, Polen und Rumänien. Wer aber sind dann diejenigen, die in anderen Gedenkstätten »zunehmend provokante Fragen« stellen, wie der Gedenkstättenleiter von Bergen-Belsen berichtet? Rita Prigmore bricht diesen Eindruck schließlich, als sie gegen Ende erzählt, wie sie während eines Auschwitzbesuches deutsche Schüler_innen hörte, die die Realität des Holocaust anzweifelten und ihr Entsetzen darüber zum Ausdruck bringt. Der britisch-deutsche Journalist und Autor Alan Posener warnte im August in einem Kommentar: Wo die Shoah relativiert oder geleugnet wird, da verschwindet auch das Bewusstsein für die Schrecken des Porajmos (Romanes-Wort für den Genozid an den Sinti_zzes und Rom_nja während des NS).

Majchrzak gelingt es, mit seinem dokumentarischen Essay die Frage zu beantworten, wie Erinnern zukünftiger Generationen aussehen kann, wenn die letzten Überlebenden nicht mehr Zeugnis ablegen können. Es muss darum gehen, die Nachkommen der Überlebenden von Objekten der Erinnerungspolitik zu Subjekten zu machen. So kann nicht zuletzt Schüler_innen wie Lehrer_innen die Präsenz und Kontinuität von Vergangenheit bewusst gemacht werden. Der Film ist dabei nicht nur ein Mahnmal für die ermordeten Sinti_zze und Rom_nja, sondern auch ein Lehrstück, den bestehenden deutschen Zustände entgegenzutreten.

Der Film kann ausgeliehen werden bei Funambules Film Produktion. Konditionen und Kontakt über kamil@funambules.net