Ein europäisches Ereignis

geschrieben von Axel Holz

27. November 2020

Neuer Blick auf den Hitler-Stalin-Pakt

Die Historikerin Claudia Weber von der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder hat 80 Jahre nach dem Nichtangriffspakt zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion ein neues Buch über die umstrittene Vereinbarung vorgelegt. In einer Video-Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung nannte sie das Vertragswerk ein europäisches Ereignis. Dieser Blick ist neu, ebenso wie der Bezug zur Kontinuität erfolgreicher wirtschaftlicher Beziehungen beider Länder seit dem Rapallo-Vertag 1922 und den detaillierten Informationen über die Organisation des Bevölkerungsaustausches nach der Besetzung Polens durch Deutschland und die Sowjetunion.

Die europäische Dimension besteht zum einen im Kontext der europäischen Konfliktparteien vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, die sich gegenseitig nicht trauten, vorhandene Bündnisse missachteten, nur eigene Vorteile im Sinn hatten und den Eroberungs- und Vernichtungswillen der Nazis unterschätzen. Er besteht andererseits darin, dass mit der Interessenabgrenzung zwischen Deutschland und der Sowjetunion weniger durch den Nichtangriffspakt vom 23. September 1939 als vielmehr durch den Freundschaftsvertrag einen Monat später Einflussgebiete abgesteckt wurden. Sie waren Ausgangspunkt für eine Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies übrigens nicht ohne Widersprüche und Konflikte zwischen den Vertragsparteien, die beide auf Zeit spielten.

Aufteilung Polens

Claudia Weber »Der Pakt, Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz«, C.H. Beck Verlag, München 2019, 276 Seiten, 26,95 EUR

Claudia Weber »Der Pakt, Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz«, C.H. Beck Verlag, München 2019, 276 Seiten, 26,95 EUR

Bei der völkerrechtswidrigen Aufteilung Polens folgte die Sowjetunion mit ihrer Besetzung polnischer Gebiete der von den Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg vereinbarten Curzon-Linie. Die Autorin geht nicht darauf ein, dass Polen die Gebiete östlich davon selbst bis 1922 erobert hatte. Mit Bessarabien und dem Baltikum eroberte die Sowjetunion in Absprache mit Nazi-Deutschland Interessengebiete, die auch nach der Potsdamer Konferenz Bestand hatten. Im Freundschaftsvertrag mit Deutschland wurden aber auch Interessengebiete in Südosteuropa und Finnland fixiert. So wurde die Besetzung des Tschernowitzer Gebietes (Teil Rumäniens) durch die Sowjetunion von Nazi-Deutschland anerkannte. Andererseits kontrollierten die Nazis gegen Stalins Protest Transportknotenpunkte in Finnland, bevor sie Norwegen besetzten.

Wirkung auf kommunistische Bewegung

Unbestritten ist bis heute die verheerende moralische Wirkung, die der Hitler-Stalin-Pakt auf die kommunistische Bewegung hatte. Neben Enttäuschung und Desorientierung gab es auch Versuche der propagandistischen Rechtfertigung. Sicher hat die Offenlegung des Paktes nicht den Untergang der Sowjetunion herbeigeführt. Die Veröffentlichungen zeigten aber, welche Widersprüche und zivilisatorischen Fehlleistungen bis hin zum Verbrechen es in der Sowjetunion gegeben hatte. Während die Ermordung von 20.000 polnischen Offizieren und Soldaten durch das NKWD (Innenministerium der UdSSR) im Herbst 1989 bekannt wurde, blieb der Hitler-Stalin-Pakt auch unter Gorbatschow ein Staatsgeheimnis. Erst in einer der letzten Sitzungen des Sowjetkongresses wurde der Pakt als Aggres-sionsverbrechen verurteilt. Die Details dazu werden erst in Claudia Webers Buch plastisch deutlich.

Details der Umsiedlung

Nachdem die Sowjetunion die vereinbarten Gebiete bis zum Bug besetzt hatte, wurde eine gemeinsame Militärkommission gebildet. Sie sollte einen Bevölkerungsaustausch organisieren, der unzähliges Leid erzeugte. Sogenannte Volksdeutsche auf dem Gebiet der Sowjetunion sollten »Heim ins Reich« geholt werden. Über 300.000 Menschen aus dem von Deutschland besetzten Polen wurden in den sowjetischen Machtbereich geschickt. Besonders ablehnend wurde mit den Juden umgegangen, die auf der Flucht nicht selten im neuen Grenzgebiet von beiden Seiten beschossen wurden. Auf sowjetischer Seite bestand wenig Verständnis für Entschädigungsansprüche von Umgesiedelten, deren Besitz in Sowjeteigentum übergegangen war.

Pakt hält nur knapp zwei Jahre

Im November 1940 besuchte Außenminister Molotow Hitler, der ihn in Berlin zu den Klängen der Internationale begrüßen ließ. Zu diesem Zeitpunkt war der Vertrag bereits brüchig und Hitler hatte längst den Überfall auf die Sowjetunion beschlossen. Zwar versuchten Stalins Beauftragte, den Vertrag weiter zu erhalten, indem sie sich nun zu großzügigen Entschädigungen bereit erklärten und Stalin auch die Auflösung der Komintern anbot. Es bleibt aber ein Mythos, dass Stalin und seine Vertrauten vom Überfall auf die Sowjetunion überrascht gewesen wären. Ein Bündnis mit dem Westen, das noch wenige Tage vor dem Hitler-Stalin-Pakt vom Westen faktisch abgewiesen wurde, war nach dem 22. Juni 1941 schnell möglich. Churchill wies nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion jegliche Anbiederungen Ribbentrops zurück. 1942 traf er sich mit Stalin bei Moskau. Das war die Geburtsstunde des alliierten Bündnisses, das später das Naziregime zerschlug.