Strategien der Bewältigung
27. November 2020
Tipps zum Umgang mit der Mehrheitsgesellschaft
Max Czolleks zweiter Essayband trägt den kurzen aber komplexen Titel »Gegenwartsbewältigung«. Czollek, geboren 1987, legt hier folgend auf seinen Bestseller »Desintegriert Euch!« (2018) ein weiteres Plädoyer für ein Um- und Neudenken der deutschen Gesellschaft vor.
Czollek ist jüdischer Publizist, Lyriker und Politikwissenschaftler. In seinen Büchern ist er vor allem eins: wütend. Wütend auf ein Deutschland, das er in seinem polemischen Aufruf Desintegriert Euch! als ein Land beschreibt, das erfolgreich seine eigene Geschichte verdrängt oder sich für diese sogar anerkennend auf die Schulter klopft. Ein Land, das dabei für sein Gedächtnistheater die lebendigen und toten Juden benutzt. Wütend auf alle, die das mitmachen.
Für alle, die seine Wut teilen, formuliert Czollek einen Vorschlag: Desintegration. Nicht mehr versuchen, Teil zu sein einer Gesellschaft, deren Fundament Rassismus und Antisemitismus sind. Sondern jüdisches, migrantisches Leben ihr entgegen setzen, wehrhaft sein, Banden bilden.
Auf diesen Ideen baut sein zweiter Essayband auf. Auch hier geht es darum, warum Deutschland nicht für alle sicher sein kann. Entstanden auch als Antwort auf die rassistischen und antisemitischen Anschläge in Halle und Hanau und auf die Kooperation der thüringischen FDP mit der AfD. Seine zentrale These: Aufgrund ihrer nicht aufgearbeiteten politischen und historischen Hintergründe sind die gängigen Denkweisen und Erzählungen nicht in der Lage, mit rechter Kontinuität und rechtem Terror umzugehen. Diese Denkweisen gilt es, neu zu hinterfragen. Gegenwartsbewältigung ist dabei eine Perspektive, eine Methode und eine Sichtweise auf die Gesellschaft – wobei im Ursprung künstlerische Praxis und politisches Bewusstsein zusammen kommen.
Was Czollek erneut beweist, ist der genaue, komplexe und beinah lyrische Sprachgebrauch, den er auch selber thematisiert. Ausgehend von der Rekapitulation der Debatte um Eugen Gomringers Gedicht »ciudad« nimmt Czollek uns mit auf eine Reise zu der Frage, was Autor:innenschaft mit Politik zu tun hat, und welche Rolle darin die Sprache spielt, besonders die deutsche Sprache. Czollek zeigt auf, dass Kunst immer im Zusammenhang mit Kultur steht, weil Kultur nicht ohne Menschen gemacht werden kann und es diese wiederum nicht ohne eine Beziehung zu ihrer Gesellschaft gibt. Klingt simpel. Was Czollek aber eigentlich damit vorschlägt ist, sich die Kunst, in seinem Falle also die Sprache, zur Waffe zu machen. Und das tut er, indem er eine eigene Sprache findet für die Ideen einer offenen und freien Gesellschaft für alle – wehrhafte Poesie. Am Titel des Buches lässt sich bereits erkennen, welche Doppeldeutigkeit er seinem Vokabular zutraut: Gegenwartsbewältigung ist ein Vorschlag, eine Opposition zu einer vertrauten Wortzusammensetzung.
So entsteht ein Plädoyer fürs Umdenken. Zusammengefasst schlägt Czollek vor, wie wir abseits vom Mitmachen in der bestehenden Gesellschaft Räume schaffen können, um die Gegenwart zu bewältigen. Im Kontrast zu Desintegriert Euch! geht es hier aber nicht um die AfD und ihre Wähler:innenschaft, sondern um weit verbreitetere Denkweisen. Er setzt sich in den einzelnen Essays beispielsweise mit dem Heimatbegriff und der Hufeisentheorie, mit der Leitkultur und dem ostdeutschen Antifaschismus, mit dem symbolischen Juden und mit der Nutzung des Solidaritätsbegriffes auseinander.
Was dabei herauskommt, ist die komplexe Intersektionalität. Hiermit meint er das Bewusstsein, dass »unsere individuellen Positionen in der Gesellschaft stets zwischen Handlungsmacht und Verletzbarkeit pendeln.« Er plädiert für eine Schärfung der Perspektive über die eigenen Diskriminierungserfahrungen hinaus. So zeigt er einen Weg heraus aus der Ohnmacht und lässt solidarisches Handeln nicht nur möglich, sondern unabdingbar erscheinen.
Die Vorstellung des Konzepts der komplexen Intersektionalität ist ein zentrales Anliegen des Essaybandes und ein Aufruf. Deutlich wird dabei stets, wie wichtig eine enge Verzahnung von Aktivismus und Denken ist, um gesellschaftliche Veränderungen vorzubereiten. Gerade weil wir andauernd von Denkweisen begleitet sind, die in bestimmten politischen und historischen Traditionen stehen und unser Denken begrenzen, müssen wir dem neue Konzepte entgegensetzen. Radikale Pluralität oder komplexe Intersektionalität erweitern unser Denken.
Gegenwartsbewältigung wirkt dennoch etwas weniger schonungslos und polemisch als »Desintegriert euch!« und erinnert mehr an den hierzulande gepflegten antifaschistischen Mainstream. Das allerdings spricht nicht gegen eine unbedingte Leseempfehlung: Czollek bleibt wütend und pointiert. Er klingt halt, ohne ihm auf die Füße treten zu wollen, realpolitischer, wenn auch weiterhin konfrontativ. Unseretwegen könnte Max Czollek jeden Tag für uns und mit uns die Gegenwart bewältigen.