Wer entscheidet

geschrieben von Lisa Mangold

30. November 2020

»Cancel Culture« und Diversität im Kulturbetrieb

Es ist kein Zufall, wer eine Fernsehsendung moderiert, auf der Bestsellerliste steht oder wessen Stimme in einer Talkshow gehört wird. Die Auswahl wurde von Menschen getroffen, der Marktwert abgeschätzt, Netzwerkkontakte haben diese Entscheidungen befördert, der Mensch und sein Produkt müssen zu dem Konzept passen. Im kulturellen Raum Deutschlands sind mehrheitlich weiße Menschen zu sehen, vor allem Männer. Es werden sexistische Witze erzählt, antisemitische Mythen weitergegeben und rassistische Dialoge geführt. Schauen wir uns die Geschlechterverteilung an: Moderator*innen und Journalist*innen sowie Expert*innen in TV-Informationssendungen sind zu 80 Prozent männlich. Ein Drittel der Programme im Fernsehen kommt laut der Studie »Audiovisuelle Diversität« der Universität Rostock ganz ohne Protagonistinnen aus.

Seit einiger Zeit wird diese Situation öffentlich kritisiert, Machtverteilung hinterfragt und mehr Diversität – und damit auch mehr Realität – eingefordert. Doch diese Kritik an den Strukturen wird von »Alteingesessenen« argwöhnisch beäugt. Zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse bewertet Kulturstaatsministerin Monika Grütters die Situation wie folgt: »Immer wieder geraten Literatur und Kunst zwischen die Fronten, wo einzelne gesellschaftliche Gruppen sich zu Richtern darüber aufschwingen, wer über welche Themen schreiben darf und wer nicht, oder wenn Kunstwerke unter Verweis auf ihr Kränkungspotential aus dem öffentlichen Raum verbannt werden.« Nun ist davon auszugehen, dass Grütters dabei nicht an den TV-Literaturkritiker Denis Scheck denkt, der am Ende seiner Sendung die »Spiegel«-Bestsellerliste kommentiert und dabei die guten Bücher lobt und die »schlechten« Bücher in die Mülltonne wirft. Sie kritisiert nicht die alteingesessenen Machtstrukturen in der Kultur, nicht die unsichtbaren Widerstände, die Frauen, People of Color und anderen marginalisierte Gruppen den Weg in die Entscheidungsebenen versperren. Nein, Monika Grütters Worte sind als Beitrag zur Diskussion um eine sogenannte Cancel Culture in Deutschland zu verstehen.

Denis Scheck entscheidet. Betreibt er nicht »Cancel Culture«?

Denis Scheck entscheidet. Betreibt er nicht »Cancel Culture«?

»Cancel Culture« bedeutet frei übersetzt eine »Kultur des Absagens« von Veranstaltungen, auf denen missliebige Positionen dargeboten werden beziehungsweise um das Ausladen von Gästen. Das Phänomen zu erklären, ist schwierig. Denn allein die Frage der Existenz einer solchen Kultur ist eine politische Frage. Bleiben wir bei Monika Grütters. Sie spricht von einer Verbannung aus dem öffentlichen Raum, weil Werk oder Künstler*in jemanden kränken (könnten). Damit schließt sie sich vielen Beschreibungen einer behaupteten Cancel Culture an: Eine aufgeregte Menge hält eine Meinungsdifferenz angeblich nicht aus, fühlt sich angegriffen, ist zu sensibel für Meinungsverschiedenheit und schreit laut nach dem Henker.

Ein weiteres Beispiel: Denis Schecks Buchwurf in die Mülltonne stellt offenbar keine Cancel Culture dar. Aber es ist anzunehmen, dass linken Aktivist*innen Cancel Culture vorgeworfen wird, wenn sie bei der Buchmesse öffentlich Bücher mit rassistischen und sexistischen Inhalten in eine Mülltonne werfen würden. Oft wird eine politische Kritik an Kulturschaffenden, Darstellungen oder Kunstwerken als ein emotionaler Aufschrei dargestellt, die Kritisierenden als extrem, autoritär und aggressiv bewertet – quasi faschistisch. Der Kabarettist Dieter Nuhr sagte in diesem Jahr bei Phoenix zu Kritik, die auf ihn per Twitter einprasselte: »Der Shitstorm (…) ist die humane Variante des Pogroms. (…) Eine Masse rottet sich zusammen und setzt an zur sozialen Vernichtung.« Unabhängig von dieser abscheulichen Verharmlosung tatsächlicher Pogrome, verschwinden Argumente, sobald der Begriff Cancel Cultur genutzt wird. Die Kritiker*innen werden zum wütenden Mob deklariert, und die Kritisierten dominieren die Debatte. Prominenz in Deutschland, die beklagt, Opfer von Cancel Culture zu sein, tut dies öffentlich, mit viel eigener Durchsetzungskraft und gewinnt meist an Aufmerksamkeit. Wie viele Menschen mehr kennen beispielsweise das Gedicht »avenidas« des Lyrikers Eugen Gomringer, seit Studierende kritisierten, dass es an der Fassade ihrer Hochschule stand? Wer kannte Anfang des Jahres die Komikerin Lisa Eckhart (S.25), die ihre Witze auf Kosten von Minderheiten macht? Den angeblich »gecancelten« prominenten Kulturschaffenden wird das Mikrophon hingehalten. Dass diese öffentliche Opferinszenierung funktioniert, hat strukturelle Gründe. Sie sind prominente Personen, sie haben Zugang zu Bühnen und Publikum. Die Debatte um Cancel Culture nützt ihnen, diesen Zugang zu erhalten. Deshalb muss nicht über Cancel Culture diskutiert werden, sondern über Umverteilung und Diversität in Kunst und Kultur.

Zu empfehlen: Podcast »Cancelt uns endlich!«  zeit.de, Direktlink bit.ly/2TkiUnh