Sterben befreit

geschrieben von Peter Bierl

9. Dezember 2020

Verschwörungsideologie und Esoterik unter Querdenker*innen

Bei den sogenannten Querdenker- oder Hygiene-Demos toben sich sozialdarwinistisch gestimmte Wutbürger*innen aus der Mitte der Gesellschaft aus, die sich über Einschränkungen aufregen. Vor allem das Maskentragen wird als Maulkorbzwang denunziert. Prägend sind Menschen aus der Esoterikszene, Impfgegner*innen sowie halb- und bauchlinke Globalisierungsgegner*innen. Die Gruppe »Demokratischer Widerstand« um Anselm Lenz schwadroniert von einem »Zusammenbruch des Finanzmarktkapitalismus«, den die Regierung zu kaschieren suche, in dem sie unter dem Deckmantel einer Pandemie eine Diktatur errichte. Die extreme Rechte beteiligt sich als Trittbrettfahrer und wittert die Chance der Einflussnahme und Rekrutierung.

Gefährlichkeit geleugnet

Unter den Demonstrant*innen und in ihren Umfeldern kursieren mehrere Verschwörungsgeschichten. Die schlichteste Variante besagt, das Corona-Virus existiere gar nicht oder seine Gefährlichkeit werde maßlos übertrieben. Ein zweiter Typus unterstellt, das Virus sei absichtlich in einem Labor in China, Israel oder den USA gezüchtet worden, um anderen Ländern oder der Menschheit insgesamt zu schaden. Weit verbreitet ist die Vorstellung, es handele sich um einen groß angelegten Plan von Bill Gates, der mit einem Impfstoff gewaltige Gewinne erzielen und der Menschheit mit dem Medikament eine Technologie injizieren wolle, mit deren Hilfe alle kontrolliert werden könnten. Wahlweise wird auch der Name von George Soros ins Spiel gebracht. Vergleichsweise harmlos ist die Behauptung, es gebe ein Komplott der Pharmaindustrie. Als Motiv wird immer wieder die Errichtung einer Diktatur genannt, der Begriff der Neuen Welt Ordnung (NWO) findet sich, der aus dem US-amerikanischen Nazispektrum stammt. Selbst wenn nicht von Israel, Soros oder Rothschild die Rede ist, sondern von Gates, der geradezu die Negativ-Ikone der Bewegung zu sein scheint, dürfen wir uns nicht täuschen lassen: Sein Name ist eine Chiffre, eine Form der Umweg-Kommunikation, wie dieses Phänomen in der Antisemitismus-Forschung bezeichnet wird. Die Varianten sind beliebig kombinierbar, weil Fakten und Logik egal sind. Ein Körnchen Wahrheit liegt darin, dass Unternehmen, die an Impfstoffen und Medikamenten forschen, steigende Aktienkurse verzeichnen und im Falle des Erfolges Gewinne einstreichen werden.

Teilnehmer einer Coronaleugner-Demonstration am 25. Oktober in Berlin, Foto: christian-ditsch.de

Teilnehmer einer Coronaleugner-Demonstration am 25. Oktober in Berlin, Foto: christian-ditsch.de

Nicht den geringsten Beleg gibt es hingegen für Machenschaften einzelner Personen. Vor allem ist es unsinnig, anzunehmen, nahezu alle Regierungen dieser Welt, vom Neofaschisten Viktor Orban in Ungarn über liberale Regierungen des Westens unterschiedlichster Couleur bis zur Kommunistischen Partei Chinas würden nach einer Pfeife tanzen und dafür die Kapitalverwertung reduzieren sowie eine scharfe Wirtschaftskrise, soziale und politische Verwerfungen und Machtverluste intern und in der internationalen Staatenkonkurrenz riskieren.

Rolle der Esoterikszene

Die Verwicklung der Esoterikszene in die Corona-Proteste zeigt sich an prominenten Rednern wie Jürgen Fliege und Rüdiger Dahlke, aber auch am Habitus. Wenn Teilnehmer*innen auf der Münchner Theresienwiese die Pace-Regenbogenfahnen schwenken und die alte Hippie-Hymne »Age of Aquarius« anstimmen, ist das für Nazis ein clash of cultures. Für die Beteiligung gibt es mehrere Motive. Anbieter*innen aus dem kommerziellen Spektrum, etwa Wunderheiler*innen, leiden ökonomisch an den Einschränkungen. Wichtig sind Netzwerke, die sich während der Proteste gegen die Pflicht zur Masernimpfung in Schulen und Kitas gebildet haben. Der Bundestag verabschiedete im Herbst 2019 das Gesetz. Bei den Protesten spielten Anthroposoph*innen eine wichtige Rolle.

Ausschlaggebend ist die Ideologie. In der Esoterik sind es höhere Mächte, Götter und ihre Boten, Engel und große Eingeweihte oder spirituelle Führer, die über den Lauf der Welt bestimmen, dazu das individuelle Karma. Esoterisches Denken ist damit grundsätzlich irrational, elitär, antidemokratisch. Der Mensch zappelt an den Schnüren höherer Mächte. Auf kritisches Denken, geschweige denn eine Analyse gesellschaftlicher Strukturen wird verzichtet, typisch ist die Personalisierung. Daraus ergibt sich wiederum eine strukturelle Nähe zur Verschwörungsideologie.

Teilnehmer einer Kundgebung am 16. Mai in München auf der Theresienwiese. Foto: Peter Bierl

Teilnehmer einer Kundgebung am 16. Mai in München auf der Theresienwiese. Foto: Peter Bierl

Ein Musterfall ist die Anthroposophie und ihre Parallelwelt (aus der etwa Ken Jebsen, ein ehemaliger Waldorfschüler, hervorgegangen ist). Sie ist die beständigste und einflussreichste Formation der Esoterik in Deutschland, die über ein eigenes Bildungssystem, Waldorfschulen und Universitäten, verfügt. Ihr Begründer Rudolf Steiner behauptete, über dem Menschen stünden Engel und Erzengel, Volks- und Rassengeister oder die Dämonen Ahriman und Luzifer, die hinter dem modernen Materialismus und Intellektualismus stecken. Zentral ist die Lehre von Karma und Reinkarnation, wonach das Leben jedes Menschen von Handlungen in früheren Leben geprägt ist. Dazu gehört auch die Idee, dass Taten in diesem Leben künftige Wiederverkörperungen beeinflussen.

Medizin und hohe Mächte

Von Medizin hatte Steiner nicht mehr Ahnung als jeder belesene Laie. Gleichwohl erklärte der »Menschheitsführer«, wie er bis heute von Anhängern genannt wird: Wer eine Lungenentzündung bekomme, habe im früheren Leben ausschweifend gelebt und müsse jetzt gegen Luzifer kämpfen. Menschen mit »schwachem Ich-Gefühl« würden sich bei der nächsten Inkarnation Gegenden aussuchen, in denen Cholera auftritt, um ihr Selbstgefühl an »derbsten Widerständen« zu kräftigen. Grundsätzlich ging Steiner davon aus, dass sich eine gesunde Seele einen gesunden Körper schafft, nicht umgekehrt wie das berühmte lateinische Sprichwort besagt. Denn der Leib sei die Offenbarung höherer, geistiger Mächte. Alle Krankheiten deutete Steiner als Störungen in dieser Verbindung. So erklärte er Blähungen als Effekt eines astralischen Organismus, der zu stark wirke. Manche Bakterien bezeichnete Steiner als »Träger von Infektionskrankheiten, die von den Lügen der Menschheit herstammen« und sprach von »physisch verkörperten Lügendämonen«.

Zum Impfen sind seine Positionen nicht eindeutig, woraus sich gegensätzliche aktuelle Positionen speisen. So heißt es in einer Stellungnahme der Medizinischen Sektion am Goetheanum im schweizerischen Dornach bei Basel und der Internationalen Vereinigung Anthroposophischer Ärztegesellschaften aus dem Vorjahr: »Anthroposophische Medizin vertritt keine Anti-Impf-Haltung und unterstützt keine Anti-Impf-Bewegungen.« Andererseits wurde gerade aus anthroposophischen Kreisen gegen die Masernimpfung agitiert. Auch Beiträge zur aktuellen Corona-Pandemie fallen unterschiedlich aus. Georg Soldner, Leiter der Medizinischen Sektion, betont die Gefährlichkeit des Virus und unterstützt Gegenmaßnahmen. Andere plädieren für eine Herdenimmunität nach schwedischem Vorbild. Maßnahmen wie die Maskenpflicht werden mindestens angezweifelt bis heftig abgelehnt.

Robuste Immunabwehr?

Diesem Spektrum sind die Ärzte Klaus Lesacher und Christoph Hueck zuzurechnen, die mehrfach als Redner bei Corona-Demos aufgetreten sind. Nach Ansicht von Lesacher sorgen Viren und Pandemien für eine robuste Immunabwehr. Die Zahl der Toten durch Corona sei gering. Er spricht von einer »Gespensterangst«, erzeugt im Interesse der Pharmaindustrie. Impfen lehnt er als Ausdruck des Materialismus ab. Hueck behauptet, Gates wolle alle Menschen impfen, das sei eine »materialistische Heilbotschaft (…), die vollkommen von ahrimanischem Denken bestimmt ist.«

Er plädiert für ein spirituelles Verständnis von Corona. »Der Karmagedanke bedeutet, dass Gesundheit zum überwiegenden Teil nicht mit äußeren Vorsichtsmaßnahmen zu schützen ist, und dass man sein Leben nicht mit solchen Maßnahmen verlängern kann.« Der »Gedanke an ein Fortleben und eine Weiterentwicklung nach dem Tod« führe dazu, dass sich »die Angst vor dem Tod in Lebenssicherheit« verwandele. Habe man das begriffen, würde man verstehen: »Wenn ich sterbe, werde ich viel bewusster und freier werden.« Auch die Qualen der Corona-Opfer lassen sich spirituell veredeln: »Aus anthroposophischer Sicht kann Leiden als ein tiefer karmischer Entwicklungsimpuls verstanden werden.« Hueck hat zur Pandemie ein Buch publiziert zusammen mit Charles Eisenstein, dem Vordenker der Occupy-Bewegung. Schon im Frühjahr schrieb Eisenstein, der westliche, materialistisch gestimmte Mensch verdränge den Tod. Angehörige naturverbundener Völker würden hingegen kein Beatmungsgerät verlangen, sondern einen Schamanen, der sie beim Sterben begleite. Der Tod ist ihm »die Pforte zur Liebe«. Der Zynismus solcher obskuren Ansichten dürfte ihren Verkündern nicht einmal auffallen.

Antisemitismus zählt zu den ältesten Verschwörungsmythen und unterstellt, die Juden seien reich und mächtig und lenkten die Geschicke der Welt zum Nachteil anderer. Der christliche Antijudaismus basierte auf dem Vorwurf, »die Juden« hätten den Messias gekreuzigt. Im Mittelalter kam die Ritualmordlegende auf, wonach Juden christliche Kinder entführten, quälten und rituell schlachten, um mit dem Blut ihr Brot zu backen, den spezifischen Judengestank und die Hörner mit denen sie angeblich geboren werden zu beseitigen. Die Ähnlichkeit zur aktuellen QAnon-Geschichte ist evident. Konservative behaupteten später, die Juden seien die Drahtzieher der französischen Revolution gewesen. Gerade der Geistliche Augustin Barruel konstruierte eine solche Verbindung, insbesondere zum Bankhaus Rothschild. Um 1800 galt der Name bereits als Chiffre für jüdischen Reichtum, Macht und Einfluss. Heute nennen rechte wie linke Antisemit*innen auch George Soros, einen Holocaustüberlebenden, erfolgreichen Geschäftsmann und Liberalen. Die Person von Bill Gates erfüllt die gleiche Funktion. (pb)

Peter Bierl ist freier Journalist, Mitglied der Gewerkschaft dju/verdi und Autor von »Keine Heimat nirgendwo« (2020), sowie »Einmaleins der Kapitalismuskritik« (2018).