Lauter Individual-Diktaturen
11. Februar 2021
Erfahrungen mit Demokratie immunisieren gegen Demagogie
Die Rede von »Jana aus Kassel«, die sich auf einer Querdenken-Demonstration in Hannover mit Sophie Scholl verglich, hat ein unerhörtes Medien-echo ausgelöst. Unzählige Kommentare in den sozialen Medien, Politikertweets von Markus Söder bis Heiko Maaß, sogar ein Musicalsong bei Böhmermann – ein veritabler Shitstorm brach los. Doch was steckt hinter dem Phänomen, im Namen der Freiheit gegen eine vermeintliche Diktatur aufzutreten und dabei gleichzusetzen, was nicht einmal vergleichbar ist? Nur Dummheit und Geschichtsvergessenheit?
Hat Jana in Geschichte jahrelang gefehlt, wie jemand ihren Auftritt kommentierte, oder ist er nicht auch Ausdruck von Entwicklungen, die hinterfragt und verstanden werden müssen? Die Corona-Pandemie verändert die Gesellschaft und bringt neue politische Erscheinungen hervor. Dazu gehört, dass bisher kaum Aktive sich politisieren und auf die Straßen drängen – ohne Abstand, ohne Maske und Seite an Seite mit Nazis, deren Vorgänger nicht nur Sophie Scholl ermordet haben.
Antifaschistinnen und Antifaschisten sehen darin eine neue Form rechter Straßenmobilisierung, die zu bekämpfen ist. Darauf zu warten, dass die Querdenken-Bewegung wieder abflaut, wie das VS-Chef Haldenwang jüngst empfahl, ist für sie keine Option. Doch reicht es aus, dieser neuen Form der Rechtsentwicklung nur auf der Straße entgegenzutreten? Steht nicht viel mehr die Frage, wie solchen Erscheinungen langfristig der Boden entzogen werden kann? Ob man Menschen wie Jana erreichen kann, bevor sie sich als Widerstandskämpferinnen gegen das System gerieren und dabei aktiv die Sache jener betreiben, die die Demokratie bekämpfen?
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint der Sophie-Scholl-Vergleich als das kleinere Problem.
Ihre Identifikation spiegelt sogar das alte Bild vom »guten« Widerstand aus Sicht des Staates wider: »Gewaltlos, selbstlos und aus moralischen Erwägungen heraus«. Unvorstellbar, dass sich Jana etwa wie Käthe Niederkirchner oder Olga Benario gefühlt haben könnte …
Doch heute, mehr als 75 Jahre nach dem Sieg über den Faschismus, liegt die Deutungshoheit über diesen Teil der Geschichte ohnehin nicht mehr allein beim Staat. Historiker und Politikerinnen aller Richtungen bedienen sich ihrer ebenso wie Filmemacherinnen oder die Erfinder von Computerspielen, nun eben auch Querdenker. Vielleicht ist die Unverhältnismäßigkeit, mit der einige Politiker meinten, auf die lächerliche Szene in Hannover reagieren zu müssen, auch ihrem Unbehagen darüber geschuldet.
Das große Problem, das sich in dem Vorgang offenbart, liegt für mich in einem tiefen Unverständnis dafür, was Demokratien und Diktaturen und damit letztlich Gesellschaften ausmacht und unterscheidet. Hier liegt die Wurzel für die Verführbarkeit durch rechte Demagogen. Sie damit zu begründen, dass Jana auch im Fach Politische Weltkunde gefehlt haben könnte, geht am Kern der Sache vorbei, denn schon lange ist bekannt, dass die Entwicklung von Haltungen und Einstellungen nicht über das Lernen von Wissensbeständen erfolgt, sondern vor allem über eigene Erfahrungen. Doch wie sieht es mit den Demokratieerfahrungen junger Menschen in der Bundesrepublik heute aus?
Laut Shell-Jugendstudie 2019 kritisieren mehr als zwei Drittel der befragten Jugendlichen, dass sich die Politiker nicht um ihre Belange kümmern, was die Autoren als mögliche Ursache für Politikverdrossenheit ansehen. Hier offenbart sich ein zweifelhaftes Demokratieverständnis: Für meine Belange sind die Politiker zuständig und ich selbst bin nicht gefragt. Wenn ich mich dann schlecht vertreten sehe, distanziere ich mich von der Politik. Greift sie sogar in meine persönlichen Rechte ein, muss ich mich wehren, denn hier droht (mir) eine Diktatur.
In dieser Logik stehen sich Individuum und Gesellschaft entfremdet gegenüber. Sie entspricht durchaus Aspekten der Realität, nur laufen sie auf die Zerstörung all dessen hinaus, was die Gesellschaft zusammenhält.
Allerdings kann diese Tendenz auch gebrochen werden: Durch die Möglichkeit massenhafter Erfahrungen mit lebendiger Demokratie, durch die Erfahrung von Beteiligung und Gemeinsamkeit, durch Chancen für alle, mitzuentscheiden über das, was sie betrifft.
Eine Mammutaufgabe, an der wir Antifaschistinnen und Antifaschisten mitwirken können und müssen. Fangen wir gleich im neuen Jahr damit an, denn die Politik allein wird es nicht richten.
Zum Weiterlesen:
Thomas Willms: »Auschwitz als Steinbruch: Was von den NS-Verbrechen bleibt«, PapyRossa, 2016, 12,90 Euro