Das Unsagbare schreiben

geschrieben von Axel Holz

20. März 2021


Zeitzeugenbericht vom Völkermord an den Armeniern 1915/16

Erstmals in deutscher Sprache ist 2020 der Zeitzeugenbericht der Armenierin Arshaluys Mardigian über den Völkermord an den Armeniern in der Türkei erschienen. Er trägt den Titel »… meine Seele sterben lassen, damit mein Körper weiterleben kann«.

Die Vierzehnjährige hatte ein ausgezeichnetes Zeugnis der Mesropyan-Schule erhalten und wollte zum amerikanischen College in Marsovan wechseln, als am Ostersonntag 1915 plötzlich die von den Jungtürken geplanten Hausarreste und Massaker begannen. Die Autorin verliert zuerst ihren Vater, ihren Bruder Poghos und nach endlosen Todesmärschen fast alle ihre Familienmitglieder, die teilweise vor ihren Augen ermordet werden. Auf ihrem Leidensweg wird sie Zeugin unglaublicher Verbrechen an Erwachsenen und Kindern, deren Schilderung für den Leser nur schwer zu ertragen ist. Während die armenischen Männer oftmals gleich ermordet werden, geraten viele Frauen in die Sklaverei, werden nach dem erzwungenen Übertritt zum Islam in muslimischen Familien verheiratet oder der Prostitution ausgeliefert.

100 Kinder lebendig begraben

Eine historische Analyse im Buchanhang bestätigt Gewalt und Massaker an den Deportierten, denen zuerst Kinder, Schwangere und Alte zum Opfer fallen. Das zeigen Berichte über ein Dorf, in dem 100 Kinder lebendig begraben werden, über einen Ort, an dem 800 Kinder auf Scheiterhaufen verbrannt oder anderenorts in Flüssen ertränkt werden und dem Sadismus ihrer Bewacher schutzlos ausgeliefert sind. Erschütternd ist der Bericht über die Ereignisse am Gölcüc-See nahe Harpun, wo im Sommer 1915 10.000 Ermordete entdeckt werden – überwiegend armenische Frauen und Kinder. Durch Massaker, Strapazen der Deportation und Übergriffe von Türken und Tscherkessen dezimiert, erreichen schließlich nur 870.000 der zwei Millionen deportierten Armenier Mesopotamien, wo sie ohne Versorgung in Konzentrationslagern überwiegend verhungern oder weiteren Massakern zum Opfer fallen. Die bedrängten Armenier erhalten auch Hilfe – von Provinzgouverneuren, die sich verweigern und dafür bestraft oder ermordet werden, von mitfühlenden Familien, von der Bevölkerung im halbautonomen Gebiet Dersim, die 20.000 Armeniern das Leben rettet. Viele der Überlebenden und ihrer Retter werden 1936 erneut Opfer türkischer Massaker an geschätzten 70.000 Menschen in der schwer zugänglichen kurdischen Provinz.

Arshaluys Mardigian: ... meine Seele sterben lassen, damit mein Körper weiterleben kann. Ein Zeitzeugenbericht vom Völkermord an den Armeniern 1915/16. Nachwort: Tessa Hofmann. Übersetzung: Walburga Elisabeth Seul. Zu Klampen Verlag 2020, 260 Seiten, 24 Euro

Arshaluys Mardigian: … meine Seele sterben lassen, damit mein Körper weiterleben kann. Ein Zeitzeugenbericht vom Völkermord an den Armeniern 1915/16. Nachwort: Tessa Hofmann. Übersetzung: Walburga Elisabeth Seul. Zu Klampen Verlag 2020, 260 Seiten, 24 Euro

Arshaluys wird 1915 auf ihrer Flucht selbst dreimal geraubt und verkauft, kann aber fliehen. Sie irrt ein Jahr lang durch die Steppen der Provinz Dersim und verdingt sich zeitweise bei kurdischen Bauern. Sie stößt in der Kirche von Erzindjam auf weitere Flüchtlinge und gelangt schließlich in das im Februar 1916 von russischen Truppen eroberte Erzurum. Dort kann sie sich in der Amerikanischen Mission ausruhen und kümmert sich um Waisenkinder und Armenierinnen. Nach ihrem Bericht vor hochrangigen Militärs und Politikern trifft sie kurz vor der Oktoberrevolution in Petrograd ein, kann über Oslo nach New York emi-grieren und wird dort von einer armenischen Familie aufgenommen. Auf der Suche nach ihrem ebenso emigrierten ältesten Bruder trifft sie auf den Journalisten und Drehbuchautor Harvey Leyford Gates. Sie schildert Gates ihre Erlebnisse, die nun in Zeitungen als Fortsetzungsberichte erscheinen, im Dezember 1918 unter dem Titel »Rashived Armenia« als Buch herauskommen und zum Bestseller werden. Der Regisseur Oscar Apfel verfilmt das Buch mit Arshaluys in der Hauptrolle Ende 1918 als Stummfilm. Die Presse überschlägt sich im Lob nach der Erstaufführung des achtteiligen Films in New York, der rasend schnell in den USA, Großbritannien und weiteren 21 Staaten verbreitet wird. Arshaluys ist mit den zahlreichen Matineen, Aussprachen und Festveranstaltungen zum Film überfordert und zieht sich aus dem Projekt zurück. Gleichzeitig geht ein Großteil der Filmgewinne, nach heutigem Wert zwei Milliarden Dollar, in die armenische Flüchtlingshilfe. Die Autorin ist durch die Erlebnisse ohne psychologische Aufarbeitung ihr Leben lang traumatisiert, und stirbt verarmt 1994 in Los Angeles.

Druck der Türkei und Zensur

Film und Buch werden in England auf türkischen Druck hin bereits nach zwei Jahren verboten und verschwinden auch in den USA aus dem öffentlichen Raum. Parallel dazu verbietet die US-Regierung auf türkischen Druck hin die Produktion eines weiteren Films zum Genozid an den Armeniern durch die Firma Metro-Goldwyn-Mayer, die die Rechte für Franz Werfels »Die vierzig Tage des Musa Dagh« erworben hatte. Die aggressive und zugleich erfolgreiche türkische Intervention gegen die Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern in der Türkei hält bis heute an. Das Buch von Arshaluys ist ein aufrüttelnder Appell gegen jeglichen Nationalismus, gegen die Ausgrenzung und Entrechtung von Ethnien, der bis heute seine Gültigkeit nicht verloren hat.

Das Buch reiht sich ein in die Veröffentlichung unzähliger weiterer Zeitzeugenberichte und Analysen, die das Erlebte der jugendlichen Tochter einer armenischen Kaufmannsfamilie aus der Kleinstadt Tschemschkadsag in Westarmenien bestätigen