»Ohne jeden Vorbehalt …«

geschrieben von Manfred Weißbecker

23. März 2021

Thüringen 1930 als regionales Experimentierfeld faschistischer Machtausübung

Bei den Landtagswahlen vom 8. Dezember 1929 hatte die NSDAP in Thüringen ihren Stimmenanteil von 4,5 auf 11,3 Prozent erhöhen können, während die bürgerlichen Parteien Verluste bis zu 16 Prozent hinnehmen mussten. Letztere verfügten im neuen Landesparlament über 23 Mandate, die beiden Arbeiterparteien SPD und KPD über 24. Angesichts dieser Pattsituation sahen die Konservativen angeblich keine andere Möglichkeit, als eine Koalition mit den sechs faschistischen Abgeordneten einzugehen. So kam es am 23. Januar 1930 erstmals in Deutschland zu einer Landesregierung, in der Wilhelm Frick – ein Putschist aus dem Jahr 1923 – den wichtigen Posten eines Innen- und Volksbildungsministers übernehmen und bis April 1931 ausüben durfte. Ideen und Konzepte der Nazis lagen anderen Parteien offensichtlich näher als jede Aktion zur Verteidigung der Weimarer Demokratie und zur Abwehr rassistischer Politik. Ein »Modell der Machtergreifung« war entstanden, Thüringen zu einem regionalen Experimentierfeld faschistischer Machtausübung geworden, bei der auch ein »Ermächtigungsgesetz« – angenommen am 29. März 1930 – nicht fehlte.

Hauptfeinde Demokratie und Parlamentarismus

War es bislang der nationalkonservativen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP), dem Thüringer Landbund und der Reichspartei des deutschen Mittelstandes »nur« um die Einschränkung und Beseitigung linkssozialdemokratischer Politik gegangen, so gerieten nunmehr Parlamentarismus und Demokratie stärker unter Beschuss. Die geforderte »Ausgabensenkung« sollte besonders »auf dem Gebiet der Kultur und auf sozialem Gebiet« sowie beim Personal erfolgen, d. h. nach der Novemberrevolution erreichte Erfolge sollten rückgängig gemacht werden (siehe Marginalie).

Wilhelm Frick, 1933

Wilhelm Frick, 1933

Auch andere Aktionen Fricks stellten Schritte auf dem Weg zur Zerschlagung der Weimarer Republik dar. So mussten einzelne Paragrafen der Thüringer Gewerbeordnung herhalten, als er am 5. April 1930 einen Erlass herausgab, dessen Titel lautete: »Wider die Negerkultur – für deutsches Volkstum«. In der Begründung schienen ein starker Nationalismus und purer Rassismus auf. Da hieß es, man müsse »die Verseuchung deutschen Volkstums durch fremdrassige Unkultur« abwehren. Veranstaltungen, Darbietungen und Vorführungen wurden untersagt, die – wieder nach dem Wortlaut – geeignet seien, »die sittlichen Kräfte des deutschen Volkstums zu unterwühlen«. Konkret hieß es, »Jazzband- und Schlagzeugmusik, Negertänze, Negergesänge und Negerstücke« würden den »guten Sitten« zuwiderlaufen.

Auch Fricks kultur- und schulpolitische Maßnahmen beruhten auf rassistischen Denkstrukturen und Postulaten. Mit den im April 1930 verordneten neuen »Gebeten«, die Schüler jeweils vor Beginn des Unterrichts zu sprechen hatten, wurde völkisch-faschistische Indoktrination betrieben. Lehrer sollten der Jugend »Beten auf deutsche Art« beibringen, in ihr eine »heldische Gesinnung« und »frühzeitig« den Wehrwillen erwecken. Ein Abgeordneter der Reichspartei des deutschen Mittelstandes begrüßte diese Gebete nicht nur, er forderte darüber hinaus, es müsse auch Schluss gemacht werden mit der »Friedensbegeisterung innerhalb der Kirche«.

Antisemitismus und »Säuberung«

Dem Ziel der NSDAP, »der furchtbaren rassischen Gefährdung des deutschen Volkes durch das Judentum« entgegenzuwirken, diente auch die Berufung des »Rasseforschers« H. F. K. Günther auf einen Lehrstuhl an der Jenaer Universität. Zudem berief Frick am 1. April 1930 einen neuen Leiter der Vereinigten Kunstlehranstalten in Weimar. Mit Paul Schultze-Naumburg, ein im völkischen Umfeld bekannter Architekt, hatte er den Mann gefunden, der das Weimarer Schlossmuseum von rund 70 Kunstwerken »säuberte«. Werke, die »nichts gemeinsam mit dem nordisch-deutschen Wesen« hätten, wurden als »entartet« und »kulturbolschewistisch« diffamiert. Sie würden sich, wie Frick erklärte, allein darauf beschränken, das »ostische oder sonstige minderrassige Untermenschentum darzustellen.«

Allem stimmten die bürgerlichen Koalitionspartner der NSDAP zu, wie u. a. ein Blick in die Landtagsprotokolle erkennen lässt. Rednern der NSDAP wurde oft ein »sehr richtig« oder »sehr wahr« zugerufen. Mitunter sprachen sich Vertreter der rechten Parteien sehr dankbar für die »Tatkraft« der Regierung aus. Für die DNVP stellte Emil Herfurth die Weimarer Republik grundsätzlich infrage – es müsse das »ganze System« beseitigt werden. Als über das Ermächtigungsgesetz abgestimmt wurde, rief er in den Saal, er plädiere dafür »ohne jeden Vorbehalt«.

»Ausgabensenkung«
Wo im Jahr 1930 »gespart« werden sollte, ging konkreter aus der Rede des Staatsministers Erwin Baum zum Jahreshaushalt des Landes hervor. Gegenüber 1929 wurden den Volksschulen 1.625.380 RM, den Berufsschulen 446.660 RM und den höheren Schulen 193.030 RM gestrichen. Die Stärke der Volksschulklassen sollte von 40 auf 48 (!) erhöht, die Zahl der Pflichtstunden für Lehrer vermehrt werden. Aus den bislang gewährten Mitteln zur Förderung des Wohnungsbaus sollten 2,21 Millionen RM »neu verwendet« und 3,89 Millionen RM des »Allgemeinen Finanzbedarfs« (damals eine vornehme Umschreibung für soziale Leistungen und Unterstützung der Ärmsten der Armen) gestrichen werden. Zudem sollten neue Landessteuern Geld in die Staatskasse scheffeln. Z. B. wollte man 2,4 Millionen RM durch eine sogenannte Kopfsteuer eintreiben, getarnt als »Verwaltungskostenbeitrag«, der von allen über 20 Jahre alten Personen mit einem Jahresbeitrag in Höhe von sechs RM erhoben werden sollte. Darüber hinaus gab es sogar Pläne, dass auch die Kommunen einen solchen Betrag verlangen können, die Bürger alsomit 12 RM zur Kasse gebeten worden wären.