Beeindruckender Fund
17. Mai 2021
Naziverbrechen: Entdeckte Fotosammlung der Leipziger VVN-BdA geht an die Gedenkstätte Zeithain
Leipzig, September 2020. Vor uns stand eine Archivkiste mit dem schlichten Vermerk »Historische Dokumente bis 1945«. »Da sind auch Fotos von Zeithain drin«, sagte Johannes Thurm, der gemeinsam mit Ursel Olaru zehn Jahre ehrenamtlich das Vereinsarchiv betreut hatte. Thurm wusste, dass ich schon seit einiger Zeit versuchte, eine Gedenkstättenfahrt nach Zeithain zu organisieren. 2020 hatte uns aber die Pandemie einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Thurm und Olaru zeigten an diesem Tag einigen Interessierten die Bestände der Leipziger VVN-BdA. »Wieso haben wir denn Fotos aus Zeithain?« Schulterzucken bei den Versammelten. Ich packte vorsichtig einen gewöhnlichen weißen Briefumschlag aus. Ein Stapel Fotos glitt auf den Tisch: kleine Schwarzweißabzüge, vier mal sechs Zentimeter groß. Darauf zu sehen: Szenen aus einem Lager – Stacheldraht, Wachturm, Baracken. Und dann viele Fotos von ermordeten Menschen, in großen Gruppen nebeneinander aufgereiht. Ausgemergelt, gefoltert und gedemütigt, beim Verteilen der kargen Essensrationen, beim »Entlausen«, auf der Latrine. Daneben in die Kamera grinsende Wachsoldaten in Wehrmachtsuniform. Auf den Rückseiten der Fotos Stempel von Leipziger Fotoateliers, die die Abzüge herstellten. Hin und wieder Klebeflecken, was dafür spricht, dass die Fotos aus Alben herausgerissen wurden. Ich blätterte weiter, einige Bilder sind vergrößerte Auszüge von Fotos einer Hinrichtung von drei Menschen und Folterszenen.
Vom »Pfahlhängen« hatte ich bis dahin noch nie ein Foto gesehen. Ich kannte nur die unvorstellbaren Berichte von ehemaligen Häftlingen und Zeichnungen. Dann teils nummerierte Fotoserien mit Abbildungen von einzelnen Gefangenengruppen, darunter Rotarmisten. Abgerissene, zerlumpte Uniformen, Fußlappen, Blechdosen, leere Blicke. Was durch die Fotos immer deutlicher wird, ist der entmenschlichende Blick der Täter. Ein Foto, auf dem zehn Männer vor einer Baracke ein Schild mit der zynischen Aufschrift »Wir sind Stalins Helden« in die Kamera halten müssen. Auf einer anderen Aufnahme eine Gruppe von gefangenen Frauen. Einige Aufnahmen wurden aus der Ferne geknipst. Wollte der Fotograf zu Hause auch mal »Flintenweiber« vorzeigen, wie die Soldatinnen verächtlich genannt wurden? Eine andere Serie stammt wohl von einem geübten Fotografen, fast porträthaft sind die Gesichter von vielen Männern festgehalten: wartend, marschierend, frierend um ein kleines Feuer gedrängt und dazwischen weitere Fotos toter Menschen. Wie viele Bilder es tatsächlich sind – 72 Stück – realisiere ich erst beim wiederholten Ansehen und Erfassen. Ich bin angewidert und elektrisiert. Ein beiliegendes Flugblatt und ein Artikel aus der Leipziger Volkszeitung vom 25. Juni 1946 sind der einzige Hinweis auf den Ort: »Massengräber in den Wäldern bei Zeithain«. Auf dem Flugblatt wird mit Fotos aus dem Umschlag um Zustimmung für die Enteignung von Kriegsverbrechern geworben. Bislang gibt es keinerlei Hinweise auf die Herkunft der Fotos. Die Nachfragen bei Vereinsmitgliedern, wer die Fotos, wann und warum bei uns abgegeben haben könnte, blieben leider unbeantwortet. Erfolgreich ist dagegen die Anfrage in der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain. Umgehend kommt auf unsere Anfrage die Antwort, dass man einen kleinen Teil der Fotos kennt. Unstrittig ist, dass sie von Wachsoldaten aufgenommen wurden. Mutmaßlich wurden sie im Rahmen der 1946 von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) initiierten Ermittlung zu den Kriegsverbrechen in Zeithain bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmt. Die Gedenkstätte besitzt jedoch nicht einmal ein Exemplar des Flugblattes im Original.
Unser Entschluss steht recht schnell fest: Die Fotos gehören in die Gedenkstätte! Dort können sie sachgerecht gelagert und kann wissenschaftlich dazu gearbeitet werden. Sie sind unschätzbare Dokumente und sollten jedem zugänglich sein. Der Fund zeigt eindrucksvoll, welchen hohen Stellenwert auch kleine Sammlungen und Archive haben können, deren Erhalt die Grundlage für unsere antifaschistische politisch-historische Bildungsarbeit ist. Aber auch für das mahnende Erinnern an die Verbrechen der Nazis und für das Bewahren der Erinnerung an die Opfer des Faschismus.