Eine Kettenreaktion

geschrieben von Gerald Netzl

17. Mai 2021

Neu aufgelegte Analyse des Versuchs, 1934 den Austrofaschismus zu verhindern

Als in Deutschland im Januar 1933 Adolf Hitler die Macht übertragen wurde, regierte in Österreich der christlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß an der Spitze einer fragilen katholisch-rechten Koalition. Das Beispiel Deutschland vor Augen und gedrängt von Mussolini schaltete er am 4. März 1933 das Parlament aus. Sein Ziel war es, eine Kanzlerdiktatur zu etablieren. Vom 12. bis zum 15. Februar 1934 kam es in Teilen Österreichs zu schweren bewaffneten Kämpfen, die 350 bis 360 Tote forderten.

Otto Bauer, führender Theoretiker des Austromarxismus und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, flüchtete noch während der Kämpfe in die CSR, um dem Henker zu entgehen. Nur eine Woche später lieferte er mit der Schrift »Der Aufstand der österreichischen Arbeiter« eine profunde Analyse. Diese Broschüre wurde breit kommentiert 2021 neu aufgelegt.

Defensiv gegen die Regierung

Dollfuß Zu Beginn rekapituliert Bauer die Geschehnisse, die zum verzweifelten, führungs- und aussichtslosen Defensivkampf von Teilen der ArbeiterInnenbewegung gegen die Regierung Dollfuß geführt haben. Das eigenmächtige und gegen den Rat Bauers erfolgte Losschlagen der Linzer Schutzbündler, als ihr Waffenlager durchsucht werden soll, hat den Parteivorstand mitgerissen, der aus Solidarität mit den Kämpfenden am 12. Februar den Generalstreik proklamierte, der kaum durchgeführt werden konnte. Das Linzer Muster wiederholte sich in den darauffolgenden Tagen in einigen Gebieten Österreichs. Wo »Widerstandsnester« vermutet wurden, rückten Bundesheer, Polizei und Heimwehr (vergleichbar dem »Stahlhelm«) vor. Heiß umkämpft waren vor allem die großen Wohnanlagen des Roten Wien. Binnen kurzem war nach einem ungleichen Kampf die Entscheidung gefallen. Die letzten Reste der Demokratie waren von Artillerie zerschossen, die Sozialdemokratie verboten und das austrofaschistische Regime endgültig etabliert.

In der Betrachtung des Februar 1934 gibt es in SPÖ und ÖVP (sie sollte das politische Erbe der Christlichsozialen Partei antreten) nach wie vor unterschiedliche Narrative mit tiefen, unvereinbaren Gegensätzen. Umso verdienstvoller ist deshalb die erneute Veröffentlichung von »Der Aufstand der österreichischen Arbeiter« mit über 130 erläuternden Kommentaren des anerkannten Zeithistorikers Prof. Werner Anzenberger Otto Bauer: Der Aufstand der österreichischen Arbeiter. ÖGB-Verlag, Wien 2021, 136 Seiten, 9,90 Euro

In der Betrachtung des Februar 1934 gibt es in SPÖ und ÖVP (sie sollte das politische Erbe der Christlichsozialen Partei antreten) nach wie vor unterschiedliche Narrative mit tiefen, unvereinbaren Gegensätzen. Umso verdienstvoller ist deshalb die erneute Veröffentlichung von »Der Aufstand der österreichischen Arbeiter« mit über 130 erläuternden Kommentaren des anerkannten Zeithistorikers Prof. Werner Anzenberger Otto Bauer: Der Aufstand der österreichischen Arbeiter. ÖGB-Verlag, Wien 2021, 136 Seiten, 9,90 Euro

Bauer verfolgt die Kausalkette der politischen Entwicklung während der letzten Jahre der Ersten Republik. Als nach dem Scheitern des Plans einer Zollunion mit dem Deutschen Reich die Großdeutsche Volkspartei (die hieß tatsächlich so) die Regierung verlassen hatte, verlor die christlichsozial geführte Regierung die parlamentarische Mehrheit. Ab 1932 regierte Dollfuß – gestützt auf Christlichsoziale, Landbund- (eine nationale, antiklerikale Bauernpartei) und Heimatblock-Abgeordnete – mit der hauchdünnen Majorität von einer Stimme. Zu diesem Zeitpunkt waren die Nationalsozialisten auch in Österreich bereits zur Massenbewegung angewachsen. Die Sozialdemokratie verlangte Neuwahlen – nicht zuletzt, um nach einem Einzug der Nazis ins Parlament deren Demagogie leichter demaskieren zu können. Mit strenger Selbstkritik bezeichnet Bauer in seiner Schrift diese Haltung als folgenschweren Fahler: Es wäre besser gewesen, eine christlichsoziale Minderheitsregierung unter Bundeskanzler Karl Buresch (dem konsens­orientierten Vorgänger von Dollfuß) zu tolerieren und damit eine Koalition mit der faschistischen Heimwehr zu verhindern. Denn als für die Christlichsozialen und Dollfuß offensichtlich wurde, dass sie langfristig eine Mehrheit nicht aufrechterhalten können, entschieden sie sich zum Staatsstreich. Als nächsten schweren Fehler benennt Bauer den Rücktritt des sozialdemokratischen Nationalratspräsidenten Karl Renner – und dadurch ausgelöst den seiner beiden Präsidiumskollegen – in der Sitzung vom 4. März 1933. Zu diesem Zeitpunkt waren die Sozialdemokratie und die Freien Gewerkschaften noch nicht zermürbt und der Republikanische Schutzbund, die bewaffnete Selbstschutzorganisation der Partei, noch nicht illegalisiert. Ein Generalstreik zur Wiederherstellung der Demokratie wäre damals mit höchster Wahrscheinlichkeit befolgt worden. Alle warteten auf ein Zeichen zur Aktion. Aber dieses Zeichen kam nicht. Und auch hier übernimmt Bauer die Verantwortung und bezeichnet diese Passivität als schweren Unterlassungsfehler.

Errungenschaften mit Salamitaktik abgeschafft

Es folgt eine Aufzählung aller Maßnahmen der Regierung bis Februar 1934. Mit Salamitaktik wurden, gestützt auf das umstrittene »Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz« aus dem Jahr 1917 (!), demokratische und soziale Errungenschaften Schritt für Schritt beseitigt. Im Februar 1934 provozierte die Regierung Dollfuß den Verzweiflungskampf der zum Widerstand bereiten Schutzbündler, um endgültig die Demokratie beseitigen zu können. Abschließend unterstreicht Bauer den heroischen Charakter der Februarkämpfe als ersten Versuch, sich dem europaweit in der Offensive befindlichen Faschismus nicht kampflos zu ergeben. Ebenso prophezeit er in Sorge: »Viel größer ist die Gefahr, dass der Nationalsozialismus in die Arbeiterschaft einzudringen vermöchte.« (S. 80) Und daraus kann eine Lehre für die Gegenwart gezogen werden: Menschen, die vor den Folgen einer Krise nicht mehr bewahrt werden können, laufen Gefahr, sich von der Demokratie abzuwenden und werden für Sozialdemagogie empfänglich, die das Heil in autoritären Lösungen verspricht. Während der Nationalsozialismus die ArbeiterInnenbewegung beseitigte, um an Stelle des Klassenkampfes eine »Volksgemeinschaft« zu konstruieren, schuf der Austrofaschismus mit der »berufsständischen Ordnung« die Illusion einer Sozialromantik, bei der »Bauer und Knecht aus einer Schüssel essen« (S. 97).