Seid wachsam

geschrieben von Johanna Jawinsky/Marie-Louise Hänsel

17. Mai 2021

Zur im Januar verstorbenen Antifaschistin Lore Pawlowski

Lore Pawlowski war das freundlichste Menschenkind, das wir kannten. Wir gehörten zwar der gleichen Vereinigung von Antifaschisten an, aber richtig kennengelernt haben wir Lore erst bei unserer Fahrt im Mai 1995 nach Kopenhagen, zu der uns der Widerstandskämpfer Frede Klitgaard anlässlich des 50. Jahrestags der Befreiung Dänemarks vom Faschismus eingeladen hatte. Lore und Alfons, ihr Ehemann, hatten da bereits das 70. Lebensjahr überschritten.

Was wir in Kopenhagen erlebten, haben wir bis heute nicht vergessen. Zum Jahrestag gab es eine große Feier. Am 4. Mai strömten mehr als 100.000 Menschen in einem Sternmarsch auf den Marktplatz der Stadt. Unterwegs standen an Straßeneinmündungen kleine Gruppen mit roten Fahnen. Wir erfuhren, dass sie sich dort aufgestellt hatten, wo Widerstandskämpfer wohnten, verhaftet und von den Faschisten ermordet worden waren. »Seid wachsam!« war die übereinstimmende Aussage. Erst nach Mitternacht endete die Kundgebung. Lore und Alfons immer dabei!

Lore wurde 1923 in Jena in einer jüdischen Familie geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie in Erfurt. Ihr Vater, Jakob Hermann, arbeitete im Großhandel für Uhren, ihre Mutter Berta, geborene Baer als selbstständige Schneidermeisterin. Die Vielseitigkeit und das offene Wesen des Vaters – er leitete eine große Kleingartenanlage und gehörte zu den Freidenkern – brachten einen großen Freundeskreis mit sich, der sich als lebensrettend erweisen sollte. Dass sich ihr bis 1933 beschauliches Leben von Grund auf ändern würde, war ihm frühzeitig bewusst. 1936 warnte ihn ein bei der Polizei arbeitender Freund vor der drohenden Verhaftung. Rechtzeitig verließ er mit der Familie Deutschland. Wie zu einer langen Bergwanderung gerüstet, zogen Jakob und Berta Hermann mit ihren beiden Kindern Pfingsten in aller Frühe los. Jeder nahm nur so viele Sachen mit, wie in einen Rucksack passten. Zuhause blieb alles stehen und liegen. Kein Nachbar durfte etwas merken.

Mit Tagesausweisen passierten sie die tschechische Grenze, überquerten zu Fuß die Schneekoppe und waren zunächst in Sicherheit. Mit offenen Armen wurden sie nicht aufgenommen, schließlich erreichten sie Prag. Hier gab es schon eine Betreuungsstelle für jüdische Emigranten. Zum Glück konnte die Mutter als gelernte Schneiderin die Familie ernähren. Auch Lore trug zum Familienbudget bei. Sie betreute Kinder der Emigrantenfamilien. Der Vater bemühte sich nun um eine Reise nach Lateinamerika. In Prag gab es einen Honorarkonsul für Bolivien, der Hilfe versprach. Aber es sollte noch ein Jahr vergehen.

Rechtzeitig vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht konnte die Familie im Sommer 1938 das Land verlassen, ihr Weg führte sie nach Genua. Das italienische Schiff »Oratio« nahm sie an Bord. Passagiere waren Menschen, die vor Hitler flüchteten: Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Ärzte, Wissenschaftler, Kaufleute, Menschen aller Konfessionen. Die Überfahrt bezahlte die Liga für Menschenrechte. Nach mehr als vier Wochen erreichte das Schiff Chile. Eine beschwerliche Reise stand allen noch bevor. Über die Anden wanderten sie nach Charandia, die Grenzstation zwischen Chile und Bolivien. Hier bestiegen sie den Zug nach La Paz. In der Hauptstadt Boliviens hatten deutsche Emigranten ein Komitee mit dem Namen »Klub der Freundschaft« gegründet, um Neuankömmlingen zu helfen, sich einzuleben. Lores Vater hatte schon frühzeitig Pläne geschmiedet. Jakob Hermann wollte in den bolivianischen Urwald. In der Nähe des Flusses Conti wollte sich die Familie niederlassen und Land urbar machen.

Für Lore endete die Reise aber schon in La Paz.

Als die Familie Hermann auf dem Bahnhof ankam, wartete dort Alfons, der als Kommunist aus Deutschland geflohen war. Als Mitbegründer des »Klubs der Freundschaft« begrüßte er die Neuankömmlinge. Schließlich verliebte er sich in die 17jährige Lore mit dem lockigen braunen Haarschopf. Ein Jahr später heirateten sie. Lores Eltern zogen in den Urwald. Schon 1941 starben der Vater und ihr Bruder an einer gefährlichen Krankheit. Lore lebte dann mit ihren beiden in Bolivien geborenen Kindern und ihrer Mutter in La Paz. Wegen eines Unglücksfalls des Sohnes mussten sie zu einer Operation nach Argentinien ziehen. Von dort aus bemühten sie sich um eine Einreise nach Deutschland. Das war gar nicht so einfach. Das faschistische Regime hatte die Emigranten zu »Staatenlosen« erklärt. So mussten sie mit Hilfe von Bekannten die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Am 30. August 1951 konnten sie zurückkehren. Sie entschieden sich für Rostock. Alfons qualifizierte sich zum Elektroingenieur, Lore ließ sich zur Kindergärtnerin ausbilden und arbeitete viele Jahre nahe des Barnstorfer Waldes. Aktiv nahmen beide am Vereinsleben der VVN-BdA teil. Als Rentnerin genoss sie ihren Ruhestand in einer schönen Wohnung. Am 3. Januar 2021 verstarb Lore. Wir werden ihr antifaschistisches Vermächtnis weitertragen.