Tagebuch eines Gettos

geschrieben von Janka Kluge

17. Mai 2021

In Lodz wurde das Leben dokumentiert

Der Krieg erreichte Lodz am 8. September 1939. Nach den Plänen der Nazis sollten die 223.000 Juden, die in der polnischen Stadt lebten, ein Drittel der Bevölkerung, sofort weiter in den Osten vertrieben und dadurch ermordet werden. Die Region rund um Lodz und Posen sollten unter dem Namen Warthegau Deutschland zugeschlagen werden. Aus diesem Grund ist Lodz 1940 in Litzmannstadt umbenannt worden. Am 10. Dezember 1939 hatte der Regierungspräsident von Kalisz-Lodz, Friedrich Uebelhoer, den Befehl zur Errichtung eines jüdischen Gettos in Lodz veröffentlicht. In dem Befehl hieß es: »Die Erstellung des Ghettos ist selbstverständlich nur eine Übergangsmaßnahme (…) Endziel muss jedenfalls sein, dass wir diese Pestbeule restlos ausbrennen.« Im April 1940 wurde ein Gebiet rund um die Armenviertel Baluty, Marysin und Stare Miasto zum Getto erklärt.

Bereits im Oktober 1939 war Mordechai Chaim Rumkowski zum sogenannten Judenältesten ernannt und gezwungen worden, einen »Judenrat« zu bilden. Die Mitglieder sind im November verhaftet und fast alle ermordet worden. Rumkowski, der ebenfalls verhaftet und gefoltert worden war, wurde gezwungen einen neuen Rat zusammenzustellen. Eine der ersten Handlungen, die der neue Rat durchführen musste, war die Erstellung einer Deportationsliste mit den Namen von 50.000 Menschen.

Rumkowski war bei den Bewohnern des Gettos umstritten. Er war tyrannisch und trat immer wieder wie ein König auf, der seinen Untertanen etwas befahl. Es war ihm aber sehr schnell klar, dass die Menschen im Getto nur sicher waren, wenn sie arbeiten können. Seine Parole war »Unser einziger Weg ist Arbeit«. Er organisierte nicht nur, dass in den zahlreichen kleineren und großen Werkstätten und Fabriken für die Nazis gearbeitet wurde, sondern auch eine Verwaltung, die sich um die Organisation des Gettos kümmerte. 1942 waren allein 12.000 Menschen in den verschiedenen Bereichen der Verwaltung beschäftigt.

Tägliche Chronik

Dominika Bopp, Sascha Feuchert, Andrea Löw, Jörg Riecke, Markus Roth, Elisabeth Turvold (Hg.): Die Enzyklopädie des Gettos Lodz/Litzmannstadt. Wallstein-Verlag 2020, 432 Seiten, 34 Euro

Dominika Bopp, Sascha Feuchert, Andrea Löw, Jörg Riecke, Markus Roth, Elisabeth Turvold (Hg.): Die Enzyklopädie des Gettos Lodz/Litzmannstadt. Wallstein-Verlag 2020, 432 Seiten, 34 Euro

Die Verwaltung war mit der Abwicklung der Geschäfte beschäftigt und versuchte das Leben der Menschen im Getto etwas erträglicher zu machen. Ab November 1940 kam aber noch etwas hinzu, von dem nur sehr wenige wussten. Einige ausgesuchte ehemalige Journalisten und Schriftsteller bekamen von Rumkowski den Auftrag, eine tägliche Chronik des Gettos zu verfassen. Sie erstellten vom 12. Januar 1941 bis zum 30. Juli 1944 täglich eine Zeitung mit unterschiedlichen Artikeln, die aber nicht gedruckt wurde. Ziel war es, späteren Generationen vom Leid der Menschen im Getto und ihren Nöten zu berichten. Als im September 1942 der Befehl kam, eine Deportation durchzuführen, die alle Kinder bis 10 Jahre, alle alten Menschen über 65 und alle Kranken betraf, war den Menschen im Getto bewusst, dass sie ermordet werden. Allein bei dieser Deportation wurden fast 6.000 Kinder abtransportiert. Sie kamen alle in das Vernichtungslager nach Kulmhof. Rumkowski ordnete an, dass zusätzlich zu der Chronik noch eine Enzyklopädie über das Getto geschrieben werden soll. Die Einträge für die Enzyklopädie wurden auf Polnisch, Deutsch oder Hebräisch verfasst. Oskar Rosenfeld, einer der Journalisten, die an der Chronik gearbeitet haben, schrieb eine Einführung. »Das Zusammenleben einer Gruppe von Menschen unter einem äußeren Zwang ohne den bewussten Willen, eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden, brachte mit der Zeit Formen hervor, die eben nur auf dem Boden des Gettos möglich waren. Der Alltag erfordert gewisse Normen des Arbeitens und Existierens. Er schuf sich seine Struktur, seine Sprache, seine Terminologie. Nirgends in der Welt gab es eine Gemeinschaft von Menschen die mit der des Gettos verglichen werden könnte.«

Die Beiträge sind so verfasst, dass sie bei einer Razzia durch die Nazis nicht aufgefallen wären. Unter dem Stichwort ›Altschuhlager‹ heißt es: »Diese Abteilung gründete der Präses Rumkowski am 15.7.1942. Um diese Zeit kamen sehr große Mengen von alten Schuhen ins Getto. Es handelt sich dabei durchwegs um Schuhwerk von Juden aus den Provinzgemeinden im Warthegau ausgesiedelt und in deren Wohnungen vorgefunden wurde. Ferner kamen getragene Schuhe von Personen ins Getto, die im Zug der verschiedenen Aussiedlungen das Getto verlassen haben.« Aufgenommen in die Enzyklopädie wurden auch berühmte Personen, die aus Wien, Prag oder deutschen Städten in das Getto deportiert worden waren.

Zeugnis für Nachwelt

In dem Buch sind mehrere einleitende Essays veröffentlicht. Die stellvertretende Vorsitzende des Zentrums für Holocaust-Studien, Andrea Löw, schließt ihre Einführung mit den Worten: »Oskar Rosenfeld, Oskar Singer, Józef Zelkowicz und die meisten anderen der Archivmitarbeiter, die noch bis kurz vor ihrer Deportation an dieser Enzyklopädie arbeiteten, überlebten nicht, ebenso wie zahlreiche der Personen, denen sie biographische Einträge widmeten. Doch sie haben es geschafft, der Nachwelt dieses bedeutende Zeugnis zu hinterlassen.«