Gefährliches Gedankengut
3. Juli 2021
Ein Frauen-Lyrikband scheut die Kommentierung
Mehr als 500 Gedichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, dazu verschiedene Perspektiven: Kanon, Literaturgeschichte, Emanzipation, weibliche Stimmen – das Ganze mit Querverweisen. Ein sehr interessanter Frauen-Lyrikband von Reclam. Aber von Seite 473 bis 488 sind Gedichte mit nationalsozialistischem Gedankengut abgedruckt (Ingeborg Teuffenbach, Agnes Miegel, Ina Seidel und andere). Diese Gedichte sind kommentarlos zusammengestellt mit Gedichten von Frauen, die vor der Verfolgung durch das Nazi-Regime fliehen mussten oder getötet wurden (Gertrud Kolmar, Edith Stein, Selma Meerbaum-Eisinger, Hannah Arendt und andere). Der Reclam-Verlag schreibt dazu: »Die chronologisch aufgebaute Anthologie bildet ab, dass Autorinnen zu allen Zeiten aktiv an der Geschichte der Lyrik beteiligt waren – und dazu gehört auch die Zeit des Nationalsozialismus.
Frauen nur in ihrer Eigenschaft als Opfer zu repräsentieren, würde den Antisemitismus einer ganzen Generation unter den Teppich kehren: Gerade Autorinnen hatten es nach dem Nationalsozialismus leicht, im Kulturbetrieb wieder Fuß zu fassen, weil sie ›nur‹ Frauen waren. Diese frauenfeindliche Kurzsichtigkeit aufzudecken, ist zugleich antifaschistische Aufarbeitung…«. Eine sehr befremdliche Argumentation! Mit dieser Argumentation müssten wir all jenen dankbar sein, die heute antisemitisch hetzen, denn sie tragen dazu bei, nichts unter den Teppich zu kehren und helfen zugleich bei antifaschistischer Aufarbeitung! Gudrun Schmidt (Studienkreis Widerstand 1933–1945) schreibt: »Es reicht m. E. nicht aus, in der ›Gebrauchsanweisung‹ darauf hinzuweisen, dass Gedichte von Verfolgten neben Texten von systemtreuen Autorinnen stehen, und es damit zu begründen, sehr gezielt unterschiedliche Texte nebeneinander gestellt zu haben, und dass die Texte ›in einen inhaltlichen Dialog untereinander treten‹ würden.« Durch Weglassen wichtiger geschichtlicher Details in den Biogrammen, die für eine sachgemäße Einordnung erforderlich wären, entsteht der Eindruck: Ist ja alles nicht so schlimm. Das Ausmaß der NS- und Hitler-Verehrung bei Agnes Miegel, Ina Seidel und co wird heruntergespielt, weil sie sich (angeblich) von ihren Machenschaften in der NS-Zeit distanziert hätten. Bei den vom NS-Regime verfolgten Dichterinnen fehlen wichtige Daten. Bei Hannah Arendt: Flucht, Lageraufenthalt, Flucht aus diesem Lager. Bei Selma Meerbaum-Eisinger fehlt, dass sie durch schwerste Zwangsarbeit in einem Steinbruch an Entkräftung und Fleckfieber starb. Das ist nicht »antifaschistische Aufarbeitung«, sondern, so Gudrun Schmidt vom Studienkreis, »zeigt mangelnden Respekt vor den Gegnerinnen und Opfern der Nazidiktatur (…) und trägt (vielleicht ungewollt) mit dazu bei, dass das eigentlich Unsagbare/Unabdruckbare immer mehr sagbar/und druckbar wird«.