Widerständige Patientin

geschrieben von Peps Gutsche

3. Juli 2021

Ein neues Buch zeichnet die Lebensgeschichte von Rosa Schillings nach

Zwischen 1939 und 1945 wurden mehr als 300.000 Menschen mit psychischen, körperlichen und seelischen Behinderungen getötet. In dem hier vorliegenden Buch wird die systematische Vernichtung dieser Menschen anhand der Lebensgeschichte von Rosa Schillings, der Großmutter der Autorin, nachgezeichnet.

Rosa Schillings wurde am 2. Mai 1941 in der Gaskammer der Tötungsanstalt Hadamar ermordet. Chronologisch wechseln sich einschneidende Erlebnisse in Rosas Leben ab mit Einordnungen zur sogenannten Rassenhygiene der Nazis und der damit verbundenen Propaganda des »unwerten« Lebens, dem Aufbau des Verwaltungsapparates zur »Aktion T4« und der Verantwortung des medizinischen und des Pflegepersonals, die sich bereitwillig dem Vernichtungsterror der Nazis anschlossen.

Rosa Schillings, geborene Drosten, wächst mit drei Brüdern in einem bürgerlichen und wohlbehüteten Umfeld auf. 1925 heiratet sie Josef »Jean« Schillings und bekommt zwei Kinder, Inge und Gregor. Jean arbeitet für eine niederländische Bergbaugesellschaft auf Borneo in Süd-ostasien (dem heutigen Malaysia, Indonesien und Brunei) und macht sich 1927 dahin auf. Rosa bleibt in Deutschland bei ihrer pflegebedürftigen Mutter und folgt 1929 nach deren Tod Jean nach Borneo. Dort geht es der jungen Familie gut, Rosa fühlt sich wohl – bis es im Januar 1930 zu einem Arbeiteraufstand in dem Bergwerk kommt, bei dem Jean stirbt. So kehrt Rosa 1930, verwitwet mit zwei Kindern, nach Deutschland zurück. Ihre Tochter Inge hatte sich auf Borneo mit Malaria infiziert und stirbt 1931.

Gabriele Lübke: Ich bin ohne Sinnen gestorben. Leben und Leid der Rosa Schillings. Marta Press, Hamburg 2021, 224 Seiten, 24 Euro

Gabriele Lübke: Ich bin ohne Sinnen gestorben. Leben und Leid der Rosa Schillings. Marta Press, Hamburg 2021, 224 Seiten, 24 Euro

Innerhalb von nur drei Jahren hatte Rosa ihre Mutter, ihren Mann und ihre Tochter beerdigen müssen. Dies stürzt sie in eine tiefe Depression. Immer wieder wird sie von Weinkrämpfen geschüttelt, wirkte apathisch und zurückgezogen. Stärke zeigt sie für ihren Sohn Gregor, der während der anstehenden Anstaltsaufenthalte von Rosa bei deren Bruder Hermann aufwächst. Hermann wird als Rosas gesetzlicher Pfleger eingesetzt und verwaltet ihr Geld, mit dem die Aufenthalte in Sanatorien und Pflegeanstalten bezahlt werden – so auch ab 1936 während der »Verwahrung« in der Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen, die Rosa erst zu ihrem Todestransport nach Hadamar verlassen wird.

Die Diagnose bei ihrer Aufnahme lautet paranoide Schizophrenie. Anhand der Krankenakte, in die die Autorin 2015 Einsicht erhält, lässt sich der Aufenthalt Rosas in Galkhausen nachvollziehen. Sie ist eine widerständige Patientin, die einheitliche blaue Anstaltskleidung ist ihr ebenso zuwider wie das schlechte und wenige Essen. Sie verweigert sich der Arbeit, die den Alltag in Galkhausen strukturiert, und beschimpft die Pflegerinnen. Im Rahmen der Aktion T4 wird sie nach Berlin gemeldet. Graue Busse der »Gemeinnützigen Krankentransport-Gesellschaft mbH« holen 1941 Rosa und 89 weitere Patientinnen aus Galkhausen ab und fahren diese zur Ermordung nach Hadamar. Auch wenn den Patientinnen erzählt wird, sie würden verlegt werden, wissen diese doch darum, dass sie mit diesen Bussen in den Tod geschickt werden sollen. Die gefälschten Todesursachen bestätigten, was Angehörige zuvor schon gerüchteweise gehört hatten: dass pflegebedürftige Personen systematisch ermordet wurden. Auf der von der Familie organisierten Trauerfeier für Rosa prangert der anwesende Pastor den Krankenmord offen in seiner Predigt an.

Nach 1945 geht das Unrecht weiter. Viele der Beschäftigten und Verantwortlichen der Pflege- und Tötungsanstalten erhalten milde Urteile bis hin zu Freisprüchen. Sie argumentieren, die Tötungen als legitime Sterbehilfe gesehen zu haben. Die überlebenden Opfer und ihre Angehörigen erfahren keine Wiedergutmachung oder Anerkennung. Erst 2010 wird Rosa Schillings auf Antrag ihres Sohnes Gregor als Verfolgte und Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.

Gabriele Lübke nutzt Augenzeugenberichte, wissenschaftliche Literatur, Familiengespräche, Briefe und Archivmaterial, um den Leidensweg Rosas aufzuzeigen – aber auch ihren Mut und unbeugsamen Willen. Die Liebe gegenüber ihrer unbekannten Großmutter und der Schmerz, sie nicht kennengelernt zu haben, spricht aus dem Buch. Eine beklemmende und zugleich einfühlsame Lektüre, die zeigt, wo der Grundstein gelegt wurde für auch noch heute präsente Behindertenfeindlichkeit und Stigmatisierung psychisch Erkrankter.