Ein Vernichtungskrieg

geschrieben von Ulrich Schneider

8. September 2021

80 Jahre nach dem Massaker von Babyn Jar

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 besetzte die Wehrmacht bis Oktober 1941 fast die gesamte Ukraine. Die Schlacht um Kiew hatten die Deutschen bereits Mitte September für sich entschieden. In der Stadt selbst begannen Einsatzgruppen sofort mit der Erfassung der knapp 50.000 jüdischen Einwohner, überwiegend ältere Männer, Frauen und Kinder. Die Wehrmacht stellte Kiew unter Besatzungsrecht und ernannte den Chef der Feldkommandantur 195, Generalmajor Kurt Eberhard, zum Stadtkommandanten von Kiew. Verantwortlicher Oberbefehlshaber war Generalfeldmarschall Walter von Reichenau.

Wenige Tage nach der Besetzung der Stadt kam es im Kiewer Stadtzentrum zu Explosionen und Bränden, die vermutlich von Partisanen ausgelöst wurden, bei denen mehrere Hundert Angehörige der Wehrmacht und Einwohner von Kiew ums Leben kamen. Am 27. September 1941 wurde beschlossen, alle Kiewer Juden zu ermorden und dieses Vorhaben als eine »Evakuierungsaktion« zu tarnen.

In der »Ereignismeldung UdSSR« Nr. 106 vom 7. Oktober 1941 heißt es dazu in faschistischer Offenheit: »Einmal auf Grund der wirtschaftlichen Besserstellung der Juden unter bolschewistischer Herrschaft und ihrer Zuträger- und Agentendienste für das NKWD, zum anderen wegen der erfolgten Sprengungen und der daraus entstandenen Großfeuer, war die Erregung der Bevölkerung gegen die Juden außerordentlich groß. Hinzu kommt, dass Juden sich nachweislich an der Brandlegung beteiligt hatten. Die Bevölkerung erwartete deshalb von den deutschen Behörden entsprechende Vergeltungsmaßnahmen. Aus diesem Grunde wurden in Vereinbarung mit dem Stadtkommandanten sämtliche Juden Kiews aufgefordert, sich am Montag, den 29.9. bis 8.00 Uhr an einem bestimmten Platz einzufinden. Diese Aufrufe wurden durch die Angehörigen der aufgestellten ukrainischen Miliz in der ganzen Stadt angeschlagen. Gleichzeitig wurde mündlich bekanntgegeben, dass sämtliche Juden Kiews umgesiedelt würden. In Zusammenarbeit mit dem Gruppenstab und 2 Kommandos des Polizeiregiments Süd hat das Sonderkommando 4a am 29. und 30.9. 33771 Juden exekutiert. Geld, Wertsachen, Wäsche und Kleidungsstücke wurden sichergestellt und zum Teil der NSV zur Ausrüstung der Volksdeutschen, z. T. der kommissarischen Stadtverwaltung zur Überlassung an bedürftige Bevölkerung übergeben. Die Aktion selbst ist reibungslos verlaufen. Irgendwelche Zwischenfälle haben sich nicht ergeben. Die gegen die Juden durchgeführte ›Umsiedlungsmaßnahme‹ hat durchaus die Zustimmung der Bevölkerung gefunden.« (1)

Oktober 1941: Kriegsgefangene bedecken ein Massengrab nach dem Massaker von Babi Jar  Foto: Johannes Hähle

Oktober 1941: Kriegsgefangene bedecken ein Massengrab nach dem Massaker von Babi Jar
Foto: Johannes Hähle

An der Aktion waren neben dem Sicherheitsdienst (SD) das Sonderkommando 4a (befehligt von SS-Standartenführer Paul Blobel), die SS-Einsatzgruppe C unter dem Kommando von SS-Brigadeführer Otto Rasch, Kommandos des Polizeiregiments Süd der Ordnungspolizei, Angehörige der Geheimen Feldpolizei, ukrainische Hilfspolizisten sowie die Wehrmacht beteiligt. Dem niederländischen Historiker Karel Berkhoff zufolge soll auch die »Bukowiner Kurin«, eine Militäreinheit der Melnyk-Fraktion der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), am Massaker teilgenommen haben.

Die Wehrmacht unterstützte diesen Massenmord praktisch. Nach dem Massaker sprengten Pioniere zur Spurenbeseitigung die Ränder der Schlucht. Dabei wurden angeschossene, noch lebende Opfer lebendig begraben. Die Habseligkeiten der Ermordeten wurden in einem Lagerhaus aufbewahrt und an Volksdeutsche sowie bedürftige Einwohner von Kiew verteilt. Die Kleider wurden in 137 Lkw verladen und der NS-Volkswohlfahrt übergeben.

Die offizielle Erinnerung an das Massaker kam nur schleppend in Gang. Zum 20. Jahrestag 1961 erschien in der sowjetischen Literaturzeitung Literaturnaja Gaseta das Gedicht »Babij Jar« des russischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko, in dem dieser nicht nur an das Massaker an den Kiewer Juden von 1941 erinnerte, sondern auch das Fehlen eines Denkmals für die Opfer beklagte. Dmitri Schostakowitsch vertonte das Gedicht 1962 in seiner 13. Sinfonie. 1976 wurde das erste Denkmal für Opfer der Okkupationspolitik errichtet. Erst zum 50. Jahrestag des Massakers wurde am 29. September 1991 das jüdische Denkmal »Menorah« im Park Babyn Jar eingeweiht. Seit einigen Jahren gibt es nun Versuche nationalistischer ukrainischer Historiker, die Beteiligung der OUN und ukrainischer Hilfspolizisten an diesem Verbrechen in Frage zu stellen.

Die gezielte Vernichtung jüdischer Menschen, von Sinti und Roma sowie »slawischer Untermenschen« in den okkupierten Gebieten ist eines der grausamsten Kapitel des faschistischen Feldzugs gegen die Sowjetunion. Noch hatte die Wannsee-Konferenz, auf der die Massenvernichtung besprochen wurde, nicht stattgefunden, aber das politische Ziel der Vernichtung aller jüdischen Menschen war bereits in den Köpfen aller Verantwortlichen präsent. Schon die ersten Wochen des Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941 waren begleitet von zahlreichen Massenmorden, die teilweise gemeinsam mit örtlichen Kollaborateuren durchgeführt wurden. Eines der bekanntesten und grausamsten Verbrechen in dieser frühen Phase des Krieges gegen die Sowjetunion fand Ende September in der Schlucht von Babyn Jar (so der ukrainische Name des Ortes) nahe Kiew statt.

(1) https://www.ns-archiv.de/einsatzgruppen/babi-jar/ereignismeldung-106.php