Zwischen den Fronten

geschrieben von Christin Kaspari

8. September 2021

Ein neuer Film zur Roten Kapelle

Was eint Sophie Scholl und Claus Schenk Graf von Stauffenberg? Ihr Widerstand im »Dritten Reich«, ihre Hinrichtung deswegen – diese Antworten liegen auf der Hand. Sie sind die Gesichter des Widerstands gegen Nazideutschland, den die Erinnerungskultur der BRD vor und nach ’89 als erinnernswert betrachtet. An Sophie Scholl erinnert zurzeit ein bizarres Multimediaprojekt der Öffentlich-Rechtlichen, das an dieser Stelle nicht weiter bewertet werden soll. Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer wird jährlich im Bendlerblock des Verteidigungsministeriums gedacht, dient er der Bundeswehr doch als erlösender Beleg dafür, dass nicht alle Militärs unter Hitler gleichgeschaltete Gewalttäter gewesen sind.

Warum nun aber Stauffenberg und nicht beispielsweise Harro Schulze-Boysen, Offizier der Luftwaffe und hingerichtet auf direkten Befehl Hitlers wegen Hochverrat und Landesverrat, und seinen Mitkämpfer*innen diese prominente Rolle, oder zumindest irgendeine, im bundesdeutschen Gedächtnis zukommt, das ist eine der großen Fragen, die sich Carl-Ludwig Rettinger in seinem Dokumentarfilm »Die rote Kapelle – Das verdrängte Widerstandsnetz« zu beantworten anschickt.

Was also unterscheidet Stauffenberg und Harro Schulze-Boysen hinsichtlich ihrer Relevanz für das deutsche Erinnern? Nun, der erste war trotz seiner Ablehnung der NS-Methoden deutschnational eingestellt, der zweite ein Vaterlandsverräter, der Vorbereitungen zum Hochverrat traf und einen angeblichen Spionagering, von der Gestapo »Rote Kapelle« genannt, unter sowjetischer Führung unterhielt. Gegen den Mythos des gut ausgebildeten und ausgestatteten sowjetischen Spionagerings anzukämpfen, ist ein weiteres Vorhaben der Dokumentation.

Sicherlich hatte die Gruppe um Schulze-Boysen und Harnack Kontakt zu sowjetischen Kämpfer*innen um Leopold Trepper in Brüssel gesucht, die klassische Spionagetätigkeiten durchführten. Man hatte die Sowjetunion vor dem bevorstehenden deutschen Überfall warnen wollen, eine Information, die aufgrund ihres Abweichens von der damals geltenden Parteilinie infolge des Hitler-Stalin-Paktes als unglaubwürdig abgetan wurde. Alle weiteren, eigenen Funkversuche schlugen allerdings fehl und führten schlussendlich zur Enttarnung, auch durch Unvorsichtigkeiten seitens des sowjetischen Geheimdienstes NKWD.

Ein Spionagering war die rote Kapelle nicht, auch keine kommunistisch organisierte Gruppe, sondern ein loses Netzwerk aus verschiedenen Freundeskreisen, dem in Berlin wohl um die 150 mutige Menschen angehörten, die bis 1941 Verfolgte des Naziregimes unterstützten, Flugblätter verteilten, kriegswichtige Informationen weitergaben, zu anderen Widerstandsorganisationen Kontakt suchten und Pläne für den Aufbau eines anderen Deutschlands nach dem Krieg schmiedeten.

Die Rote Kapelle. Das verdrängte Widerstandsnetz. (2021) Kinostart: 26. August  Regie: Carl-Ludwig Rettinger,  Lorenz Findeisen 125 min

Die Rote Kapelle. Das verdrängte Widerstandsnetz. (2021)
Kinostart: 26. August
Regie: Carl-Ludwig Rettinger,
Lorenz Findeisen
125 min

Der Name »Rote Kapelle« und der damit verbundene Mythos des Spionagenetzwerks geht zurück auf NS-Täter, die anders als viele Widerstandskämpfer*innen Kriegsende und Wiederaufbau erlebten und im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges noch Profit schöpften aus ihrem angeblichen Wissen über sowjetische nachrichtendienstliche Organisation und Praxis.

Aber auch in der Sowjetunion und der DDR wurde der Kämpfer*innen der »Roten Kapelle« zu Propagandazwecken als sowjetischer Spionageagenten gedacht. Von diesem sich fortschreibenden Narrativ der Täter, den benannten Widerstandsaktivitäten und ihrem tödlichen Ende und der Freundschaft zwischen den Kapellenmitgliedern erzählt die Dokumentation in schnellem Tempo. Ihre zweistündige Dauer, die vielleicht erst ungewöhnlich lang erscheinen könnte, wird dem Material nur gerecht.

Auf das Nachstellen historischer Szenen verzichtet der Regisseur komplett, stattdessen greift er auf zwei filmische Darstellungen aus den 70ern zurück. Die eine aus der BRD, siebenteilig, stützt sich ausschließlich auf den Mythos des Spionagerings. Die andere aus der DDR, ein Spielfilm der Defa, unleugbar näher an der historischen Realität und trotzdem auch hier der starke Fokus auf die Spionageaktivitäten der Gruppe. Durch den impliziten Vergleich ergibt sich eine weitere Funktion der Dokumentation – sie ist gleichzeitig eine gelungene Medienkritik an Werken beider deutscher Staaten zu Zeiten des Kalten Kriegs.

Andere Erzählweisen der Doku neben den nachgestellten Szenen aus den 70ern sind historische Einschätzungen und Stimmen der Angehörigen. Hans Coppi junior, der Sohn der 1942 bzw. 1943 ermordeten Hans und Hilde Coppi, fungiert gar als beides. Insgesamt ergibt sich so ein machtvolles Werk des Aufklärens und Erinnerns, das einmal mehr Zeugnis ist der NS-Kontinuitäten der BRD, aber auch auf die Situation in der DDR schaut. Beachtenswert ist, dass die Dokumentation nicht nur die Männer des Widerstands in den Blick nimmt, sondern auch die Geschichte der unbeugsamen Zofia Poznanska erzählt und Libertas Schulze-Boysen und Hilde Coppi als mutige Widerstandskämpferinnen porträtiert. Eine größere filmische Aufarbeitung der Geschichte der zahlreichen Frauen der »Roten Kapelle« steht bislang aus und lässt auf weitere ähnlich gelungene Dokumentationen wie die besprochene hoffen.