Eine Ahnung von Schuld

geschrieben von Gloria Diamant

6. November 2021

Über die »Kinder von Hoy« und einen »Schockmoment der deutschen Geschichte«

Die Autorin und Dokumentarfilmerin Grit Lemke hat ein Buch über ihre eigene Biografie in und mit Hoyerswerda geschrieben. Der Suhrkamp-Verlag kündigt an, hiermit werde zum ersten Mal »ein Schockmoment der deutschen Geschichte« literarisch aufgearbeitet. Das klingt gut und wichtig, zumal das Buch 30 Jahre nach dem rassistischen Pogrom in eben jener Stadt erscheint – wenn es denn nur stimmen würde. Falsche Erwartungen machen aber zum Glück noch kein schlechtes Buch.

Der Text ist angesiedelt zwischen Reportage und persönlichem Erfahrungsbericht. In dem autofiktionalen Ansatz, der die Erfahrungen der Autorin und zahlreicher Weggefährt*innen mit der Geschichte Hoyerswerdas nach 1949 verknüpft, liegt die Stärke von »Kinder von Hoy« in der Nähe zu dieser Geschichte und ihren Protagonist*innen.

»Machen, was man wollte«

Die Geschichte beginnt in den 1960ern Jahren. Hoyerswerda, bis dahin eine Kleinstadt, erfährt einen Aufschwung ungeahnten Ausmaßes. Das Gaskombinat »Schwarze Pumpe«, zeitweise weltgrößtes Braunkohleveredelungswerk, liegt ganz in der Nähe, und es werden Arbeitskräfte benötigt – die kommen auch aus Hoyerswerda. Und so bestimmt von nun an der Schichtbetrieb in Pumpe und der Glaube an eine leuchtende Zukunft auch das Leben der Kinder. Man folgt ihnen über Jahre und kann beobachten, wie aus einem beschränkten, aber zugänglichen Kulturangebot eine selbstbewusste Kunstszene erwächst. Mit Orten wie dem »Laden«, der unbändigen Lust an Neuem und der seltsamen Untätigkeit der DDR-Behörden formiert sich mitten in Ostsachsen eine künstlerische Avantgarde.

Zahnlose Avantgarde

Grit Lemke: Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2021, 255 Seiten, 16 Euro

Grit Lemke: Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2021, 255 Seiten, 16 Euro

Der Schwerpunkt des Buches liegt darauf zu zeigen, dass Hoyerswerda viel mehr war als die Pogrome Anfang der 90er Jahre. Das mag aus der Perspektive jener, die das kulturelle Leben der Stadt geprägt haben, verständlich sein und gibt auch einen interessanten Einblick in eine verhältnismäßig freie Kunstszene in der DDR. Wie widerständig sie jedoch war, steht auf einem anderen Blatt. Nach der Lektüre ist eher davon auszugehen, dass die zwar an DADA angelehnte, aber vielmehr auf L’art pour l’art rekurrierende Szene weder sonderlich staatsgefährdend war, noch einem lange wahrnehmbaren Rassismus irgendetwas entgegenzusetzen hatte.

Lemkes Buch ist am stärksten, wenn diese Ambivalenz immer wieder deutlich wird: Einerseits ist der »Laden« und mit ihm die Szene ein Ort zum Ausprobieren und für Exzess, der von linken Ideen und Idealen getragen wird, oder wie Lemke es selbst nennt, ein Ort der Utopie. Andererseits war lange klar, es gibt Nazis in der Stadt, es gibt rassistische Übergriffe, aber es wird weggeschaut, auch zu Beginn des Pogroms: »Während die Vietnamesen (…) um ihr Leben rennen, beschäftigen wir uns im Laden mit der Figur des Hasen bei Beuys«, »wir hatten die Tür zugemacht, um den Tumult von nebenan nicht hören zu müssen«. Diese Selbstkritik ist in ihrer Kompromisslosigkeit gegen die eigene Szene verdienstvoll. Die Ahnung von einer gewissen Schuld äußert sich im Buch auch an weiteren Stellen. Etwa dann, wenn von den Gesprächspartner*innen mit Verweis auf umweltpolitische Themen der politische Gehalt der Szene unterstrichen werden soll oder David, ein ehemaliger Vertragsarbeiter aus Mosambik, in kurzen Abschnitten Erfahrungen mit rassistischer Gewalt in Hoyerswerda schildert. Beides wirkt jedoch eher rechtfertigend als selbstkritisch.

Schlimmer ist allerdings die stellenweise Verharmlosung der Nazis und das Bemühen um eine Gleichsetzung von linksradikaler Intervention und extrem rechter Gewalt. Ersteres wird zum Beispiel dann deutlich, wenn der Nazi Torsten in einer Gesprächsaufzeichnung von 1991 relativ unkommentiert zu Wort kommt. Zweiteres dort, wo die Schuld an der Gewalt in Hoyerswerda nach den Pogromen vor allem bei den antifaschistischen Gegendemos gesucht wird.

Aufarbeitung des Schweigens

Es folgten auch in Hoyerswerda die sogenannten Baseballschlägerjahre. Für die Protagonist*innen des Buches begann damit eine Zeit der Angst und des Terrors. Aus diesen Erfahrungen ist die Schuldzuweisung zwar nachvollziehbar, aber noch lange nicht richtig. Schuld haben alleine die Nazis und eine in ihrem Schweigen zustimmende Zivilgesellschaft. Auch in der Generation von Grit Lemke hat lange keine Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle in Bezug auf das Pogrom 1991 stattgefunden. Dort wurde aber dennoch der Grundstein zur Aufarbeitung gelegt. Jahre später sind es deren Kinder und kulturelle Erben, die beginnen, Fragen zu stellen, sich stark machen für die Aufarbeitung der Ereignisse und für ein sichtbares Gedenken kämpfen. Vielleicht ist auch das vorliegende Buch ein Ergebnis dieser späten Intervention. Aufgearbeitet wird also nicht das Pogrom, sondern die Niederlage der Avantgarde, das Versagen vor den eigenen Idealen und das jahrelange Schweigen darüber.