Gegen alles Gewalttätige

geschrieben von Lutz Boede

6. November 2021

Erinnerung an Ludwig Baumann

Kaum ein anderer Verfolgter des Naziregimes hat die Debatte um die Verbrechen der Wehrmacht und die Rehabilitierung derer, die ihr den Dienst verweigerten, so geprägt wie Ludwig Baumann. Am 13. Dezember wäre er 100 Jahre alt geworden.

Ludwig war ein schüchterner Hamburger Junge mit humanistischen Überzeugungen und einer tiefen Abneigung gegen alles Militärische und Gewalttätige. Nach der Machtübertragung an die Nazis verweigerte er den Eintritt in die Hitlerjugend. 1940 wurde er zur Kriegsmarine einberufen. Zur neuen Hafenkompanie in Bordeaux kam er, weil sein in der Nähe stationierter Truppenteil ein paar Soldaten abstellen musste und »natürlich zuerst die Pfeifen schickte, die man loswerden wollte« – wie er gern vor Schulklassen berichtete.

Einfach aufhören, Teil dieses Kriegs zu sein

Am 3. Juni 1942 desertierte er mit seinem Freund Kurt Oldenburg. Schon am folgenden Tag wurden beide von einer deutschen Zollstreife festgenommen. Obwohl sie schwerbewaffnet waren und die Streife zuerst gesehen hatten, schossen sie nicht. Ludwig Baumann erklärte das später damit, dass er »einfach aufhören wollte, ein Teil dieses Krieges zu sein«. Ein Kriegsgericht verhängte am 30. Juni 1942 die Todesstrafe. Monatelang rechnete Baumann in der Todeszelle täglich mit seiner Hinrichtung, bevor er erfuhr, dass die Todesstrafe in eine zwölfjährige Zuchthausstrafe umgewandelt war. Er kam als Moorsoldat ins KZ Esterwegen, und danach ins Wehrmachtgefängnis Torgau, wo er erleben musste, wie andere Deserteure hingerichtet wurden. Schließlich wurde er in das Bewährungsbataillon 500 an die Ostfront gezwungen. Das Vernichtungsprogramm dieses Einsatzes und die NS-Zeit überlebte er schwer traumatisiert.

Ludwig Baumann im Jahr 2010.  Foto: Lothar Eberhardt

Ludwig Baumann im Jahr 2010.
Foto: Lothar Eberhardt

Nach Kriegsende kehrte er nach Hamburg zurück. Deserteure wurden als »Verräter« und »Feiglinge« geächtet. Nachdem ihn ehemalige Soldaten verprügelt hatten, wollte er sie anzeigen und wurde auch noch von der Polizei zusammengeschlagen. In Bremen lernte er seine Frau kennen und versuchte einen Neuanfang. Aber in kurzer Zeit vertrank er das nicht unbeträchtliche Erbe, das sein Vater als Tabakgroßhändler erwirtschaftet hatte. Erst als seine Frau bei der Geburt des sechsten Kindes starb, kam er vom Alkohol los. Er zog seine Kinder groß und engagierte sich in der Dritte-Welt-Bewegung.

In der Friedensbewegung fand Ludwig Baumann neue Verbündete. Er begann bei Veranstaltungen und in Schulen über seine Erlebnisse zu sprechen. Dabei erwies er sich als charismatischer Redner und Gesprächspartner. 1990 gründete er mit 37 Deserteuren und engagierten Historikern die »Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz«. Um die Aufhebung der Unrechtsurteile und die Rehabilitierung aller Opfer zu erreichen, tourte er mit seiner Lebensgeschichte durch Veranstaltungssäle, Schulen und Zeitungsredaktionen. Stets betonte er, dass ihm die gesellschaftliche Rehabilitierung wichtiger sei als die juristische und dass er für späte Gerechtigkeit und um Würde kämpfe. In den folgenden Jahren entstanden bundesweit Deserteursdenkmäler. Das Hamburger Institut für Sozialforschung brachte die Legende von der sauberen Wehrmacht mit einer Ausstellung zu deren Verbrechen ins Wanken. 1996 unterstützten zahlreiche Prominente den Vorschlag, Ludwig Baumann mit dem Friedensnobelpreis zu ehren. Die gesellschaftliche Rehabilitierung nahm Fahrt auf.

Freundlich, klar und unbestechlich

So freundlich Ludwig Baumann im persönlichen Umgang war, so klar und unbestechlich war er in der Sache. In keiner Rede verzichtete er darauf, die ungerechte Weltwirtschaft und die Zerstörung der Umwelt durch den »Raubtierkapitalismus« zu kritisieren. Als die Bundesregierung einmalige Entschädigungszahlungen statt einer pauschalen Aufhebung der Urteile anbot, lehnte er das ab. Das haben ihm in seiner Bundesvereinigung einige verübelt, denen eine kleine Entschädigung zu Lebzeiten lieber gewesen wäre als die rechtliche Rehabilitierung vor der Weltgeschichte.

1998 übernahm eine rot-grüne Bundesregierung. Aber wenig später bombardierte die NATO völkerrechtswidrig Belgrad, und das Interesse an einer schnellen Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure war bei SPD und Grünen begrenzt. Ludwig Baumann überzeugte die PDS-Fraktion davon, wortgleich den Gesetzentwurf zur Rehabilitierung einzubringen, mit dem die SPD in der vorherigen Wahlperiode gescheitert war. Gegen ihren eigenen Antrag wollte die SPD dann doch nicht stimmen. 2002 hob der Bundestag endlich die Urteile wegen Desertion auf, 2009 auch die Urteile wegen Kriegsverrat.

Das weiche Wasser hatte den Stein gebrochen.