Schlaglichter auf den alltäglichen Antisemitismus vor 1933 in Franken

6. November 2021

»Völkische Zeitungen und Versammlungsredner rühmen Nürnberg als Hochburg ihrer Bewegung. Sie haben leider recht. Schon das Straßenbild zeigt dies. Die bekannte Hitler-Uniform belebt die Verkehrswege. An allen Straßenecken wird die völkische Presse, häufig von Uniformierten, feilgeboten. Öffentliche Ankündigungen, nicht nur politischer, sondern auch gesellschaftlicher Veranstaltungen treiben mit dem Zusatz ›Juden haben keinen Zutritt‹ dem jüdischen Deutschen, aber auch jedem anderen gerecht Denkenden die Schamröte ins Gesicht.

In Versammlungen aufgehetzte Jugend belästigt mit Wort und Tat Personen, die sie mit Recht oder Unrecht für Juden hält. Eines der betrüblichsten Zeichen ist es, dass selbst einige jüngere evangelische Geistliche sich den Predigern des Judenhasses anschließen. Große Teile der früher gerecht und freiheitlich denkenden Lehrerschaft folgen darin. Mittelschulen und Volksschulen sind von der Krankheit ergriffen. Keine Ausnahme ist es, wenn Mitschüler die Gemeinschaft mit jüdischen Kameraden, unter Billigung oder doch Duldung der Lehrer, ablehnen. Sie folgen darin dem Beispiel derer reiferen Alters; überall sucht man jüdische Deutsche von der Volksgemeinschaft auszuschließen. Voran gehen Wehrverbände … Aber auch andere Vereinigungen stehen nicht zurück. Schloss gestern eine Schützengesellschaft die Juden aus, so wird ihnen heute in einem Hausbesitzerverein das Bleiben unmöglich gemacht; Turngemeinden sind so wenig von antisemitischen Quertreibereien verschont wie selbst die Zwangsinnungen der Handwerker, denen selbständige jüdische Handarbeiter sich nicht entziehen könnten, selbst wenn sie es wollten.« (1)

»Allerlei Reisebetrachtungen

Es gab Zeiten – und sie liegen noch gar nicht weit zurück –, da konnten wir bayerische Juden viele Sommerfrischen unserer eigenen Heimat nicht besuchen, ohne aufs gröblichste belästigt und beleidigt zu werden. In besonderem Maße war dies in manchen Gebirgsorten der Fall. Man konnte, um zu variieren, die Gegend vor lauter Hakenkreuzen nicht sehen; man musste auf Anrempelungen aller Art gefasst sein, und jede Ferienfreude war einem durch antisemitische Zwischenfälle verdorben. Man brauchte sich daher nicht zu wundern, wenn von der Möglichkeit, ins Ausland zu fahren, gerne Gebrauch gemacht wurde, fand man doch außerhalb der weiß-blauen Grenzpfähle gerade das, was einem die Heimat verweigerte, nämlich Ruhe und Frieden. Bei diesen Auslandsreisen machten wir alle die gleiche Entdeckung: Wir sahen erst in der Fremde mit wahrem Entsetzen, wie der Judenhass, der uns seit Jahren verfolgt und das Leben verbittert, unser ganzes Denken und Fühlen beeinflusst. Über die größten Selbstverständlichkeiten kamen wir nicht aus dem Staunen heraus:

Man konnte in Eisenbahnzügen Unterhaltungen hören, die nicht mit einer allgemeinen Schimpferei auf die Juden endeten; man sah nirgends Zeitungen vom Schlage des Stürmer; unsere Kinder durften sich harmlos mit gleichaltrigen Gefährten vergnügen, ohne dass sie eines Tages betrübt zu uns kamen mit der Meldung: ›Die Marie-Luise und der Heinrich dürfen nicht mehr mit uns spielen, weil wir Juden sind.‹ Weder hörten wir das Hakenkreuzlied singen und spielen, noch machte man den Versuch, uns Zettel mit der Inschrift ›Fahrkarte nach Jerusalem‹ in die Hand zu drücken, und nirgends gewahrte man Plakate: ›Juden ist der Zutritt verboten!‹ …

Um diese Ausführungen durch ein Beispiel aus jüngster Zeit zu illustrieren, sei folgende Episode erzählt: Ort der Handlung: der Nürnberger Hauptbahnhof am Freitag, den 19. August, abends. Alles wimmelt von uniformierten Nationalsozialisten, die zu ihrem Parteitag gekommen sind oder Gesinnungsgenossen abholen. Eben lief der Bäderzug Karlsbad–Marienbad ein und eine Schar Amerikanerinnen durchschreitet die Halle, hell und elegant, aber nicht auffällig gekleidet. ›Do schaut’s die Judenschicksen oh!‹, ruft ein langer Nationalsozialist. ›Durchhaua sollat mas, döi Weibsbilder!‹, meint eine mit großem Hakenkreuz geschmückte Bürgersfrau. Ob die Amerikanerinnen – sie waren zweifellos keine Jüdinnen – diese Bemerkungen in unserem schönen Nürnberger Dialekt verstanden haben, ist fraglich; wenn ja, so werden sie sicher bei ihrer Rückkehr nach Amerika dafür sorgen, dass ihre Landsleute Nürnberg künftighin meiden. Den Schaden aber haben unsere Hotels, die vielen Gewerbetreibenden, die auf Fremdenverkehr angewiesen sind.« (2)

(1) Bericht einer jüdischen Zeitung von 1924, zitiert in Peter Zinke »›An allem ist Alljuda schuld‹ – Antisemitismus während der Weimarer Republik in Franken«, 2009

(2) Nürnberg-Fürther Israelitisches Gemeindeblatt, 8. Jahrgang Nr. 1, Nürnberg, 1. September 1927, abgedruckt in: »Blutvergiftung, rassistische NS-Propaganda und ihre Konsequenzen für jüdische Kinder und Jugendliche in Nürnberg«, herausgegeben von Michael Diefenbacher, bearbeitet von Gerhard Jochem, Nürnberg 2015, Selbstverlag des Stadtarchivs Nürnberg