Spurensuche in Puzzleteilen
6. November 2021
In einer Graphic Novel zeichnet Bianca Schaalburg eine Familiengeschichte nach
Bianca Schaalburg zeichnet in ihrer Graphic Novel »Der Duft von Kiefern. Meine Familie und ihre Geheimnisse« behutsam die eigene Familiengeschichte von der Geburt ihrer Mutter 1939 bis zu ihrer eigenen Geburt 1968 nach. Dabei nutzt sie die Möglichkeiten, die der Comic als Medium bietet, um Welt- und Familiengeschichte, Vergangenheit und Gegenwart emotional zu verbinden.
Ausgangspunkt der Recherche, die die Grundlage für das Buch bietet und die Bianca Schaalburg gemeinsam mit ihrem Sohn durch Berlin, nach Lettland und Israel führt, ist die Frage nach der Rolle ihres Großvaters während der NS-Zeit. Sie enttarnt die deutsche und familiäre »Wir haben von nichts gewusst«-Erzählung durch die Analyse von Familienfotos, mithilfe des Soldbuchs ihres Großvaters, Recherchen in Landesarchiven und durch Gespräche. Ihr Großvater Heinrich Schott, gelernter Dentist und angeblicher Buchhalter, der bereits 1926 in die NSDAP eingetreten war und die jüngste Tochter Edda nach der Tochter Hermann Görings benannte, war als Leutnant 1942 bis 1944 in Riga stationiert. Fotos legen nahe, dass er im Rigaer Ghetto eingesetzt war. In den Wäldern rund um Riga wurden 1941 bis 1944 mehr als 40.000 Menschen durch die SS ermordet. Die Frage, ob ihr Großvater in die Massenerschießungen involviert war, kann der Comic nicht beantworten; Bianca Schaalburg macht das Wissen ihres Großvaters über die systematischen Morde aber präsent. Gesprochen wurde in der Familie nie über das, was Heinrich Schott getan hat.
Schaalburg erzählt die Geschichte der Familie nicht chronologisch, und so hilft die unterschiedliche farbliche Gestaltung der Panele, eine zeitliche Orientierung zu behalten. Ankerpunkt ist dabei immer die Wohnung im Eisvogelweg in der Onkel-Tom-Siedlung in Berlin-Zehlendorf. Die Familie Schott zog 1936 in das Haus ein, in dem zuvor auch drei Jüd_innen gewohnt hatten: Clara Hipp, Carl Loewensohn und Margarete Silbermann. Vermutlich hing deren erzwungener Auszug aus dem Haus mit dem Bedarf der Familie Schott nach einer größeren Wohnung zusammen. Die Stolpersteine der drei veranlassen Schaalburg, weitere Recherchen anzustellen, auch diese teilt sie in dem Buch. Die wenigen Informationen, die sie bei der Spurensuche zusammentragen kann, werden anschaulich in Form von Puzzleteilen – gezeichnet und -fotografiert – dargestellt. Ein vollständiges Bild kann jedoch nicht entstehen. So entscheidet sich Schaalburg, die Geschichte der drei zu erzählen, wie sie hätte sein können, und nutzt hier fiktionale Elemente. Künstlerisch und literarisch nachvollziehbar, um die Perspektiven der Opfer aufzuzeigen, hinterlässt dies jedoch im Kontrast zu der ausführlichen Geschichte ihres Großvaters einen schalen Beigeschmack. So werden diese fiktionalen Erzählungen von Clara Hipp, Carl Loewensohn und Margarete Silbermann aus der Ich-Perspektive vor allem textlich und in Schwarzweiß wiedergegeben. Sie bleiben ohne Gesicht, während Heinrich Schott wiederholt auf Fotografien, gezeichnet, in Uniform und als Vater im Familienverband dargestellt wird.
Gut gelingt es, die facettenreiche Geschichte Berlins im NS und in der Nachkriegszeit aufzuzeigen. Dabei kreuzt sich die Geschichte der Familie mit der einer bekannten NS-Überlebenden: Alice Licht, die als Sekretärin in der Blindenwerkstatt Otto Weidt arbeitete. Sie versteckte sich einige Monate in dem Haus, in dem auch die Großtante und Urgroßmutter von Bianca Schaalburg lebte. Die Nachkriegszeit wird vor allem aus der Perspektive Edda Schotts, Biancas Mutter, erzählt. Diese erlebt die Rosinenbomber ebenso wie die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg und den Einzug in eine Wohnung im Märkischen Viertel.
Bianca Schaalburg hat die Geschichte ihrer Familie erzählt, mit ihrer Mutter Edda im Mittelpunkt. Die akribische Recherche der Autorin ist bemerkenswert und hoch anzurechnen. Sanft zeigt sich die Liebe zu ihrer Familie auf den Seiten, doch auch der Wunsch, nichts zu beschönigen. Inwieweit dies gelungen ist, darüber können die Lesenden urteilen.
Bianca Schaalburg: Der Duft von Kiefern. Meine Familie und ihre Geheimnisse. Avant-Verlag, München 2021, 208 Seiten, 26 Euro.