Tödliche Konsequenz

geschrieben von Ulrich Schneider

6. November 2021

Antisemitismus in Deutschland bis 1933

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wandelte sich auch in Deutschland der Antijudaismus in einen rassistisch legitimierten Antisemitismus. Stichwortgeber wurde Joseph Arthur de Gobineau, der mit seinem Werk »Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen« (1855) im Kontext des Kolonialismus zum ersten Mal ein geschlossenes rassistisches Weltbild begründete. Weitere Autoren leiteten daraus für die sich bildenden Nationalstaaten eine reaktionäre Legitimation ab. Diese definierten sich nicht nur über Territorium, Bevölkerung und Herrschaft, sondern zusätzlich über ein rassistisch bzw. völkisch überhöhtes Staatsvolk. Im Gegensatz dazu stand »der Jude«, der Vertreter des »Weltjudentums«, der sich angeblich in keinen völkischen Rahmen einbinden ließ.

Waren im Mittelalter »die Juden« der Inbegriff aller Schlechtigkeiten dieser Welt, so verkörperten »die Juden« in dieser Ideologie die negativen Seiten der Durchsetzung des Kapitalismus in Produktion und Gesellschaft. Schon damals entstand die von der Nazipropaganda aufgenommene Unterscheidung zwischen dem »schaffenden Kapital«, was natürlich mit der Nation und dem jeweiligen »Rasse«bild der Volksgemeinschaft verbunden war, und dem »raffenden Kapital«, dem (jüdischen) Finanzkapital, das sich nicht um die Belange der jeweiligen Nation kümmert, sondern allein dem Profitinteresse folgt.

Berliner Antisemitismusstreit

Jüdische Konkurrenten in Wissenschaft und Kultur wurden mit der Behauptung abgewehrt, sie würden die jeweilige »Volksgemeinschaft« kulturell »überfremden«. Im Berliner Antisemitismusstreit unterstützte der angesehene Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) den protestantischen Hofprediger Adolf Stoecker bei der Ausschaltung der Juden aus dem gesellschaftlichen Leben mit dem Satz »Die Juden sind unser Unglück«, der später Untertitel des NS-Propagandablattes Der Stürmer wurde. Ende des 19. Jahrhunderts war sogar eine »Antisemitische Volkspartei«, später »Deutsche Reformpartei«, mit elf Abgeordneten im deutschen Reichstag vertreten.

Adolf Hitler (vorn, 3. v. r.) und J-ulius Streicher (vorn, 2. v. r.) Anfang September 1923 auf dem Nürnberger Hauptmarkt.

Adolf Hitler (vorn, 3. v. r.) und J-ulius Streicher (vorn, 2. v. r.) Anfang September 1923 auf dem Nürnberger Hauptmarkt. Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv hoff-6561

Als politisches Sprachrohr des »Verbandsantisemitismus« verstanden sich völkische Gruppen, wie der »Alldeutsche Verband«, der »Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband«, der »Bund der Landwirte«, der »Kyffhäuserverband« und die Zentralorganisation Deutscher Studenten. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges forderte die Deutschvölkische Partei (DvP) eine Ausweisung aller Juden, ein Zuwanderungsverbot für Osteuropäer und eine rassistische Neuordnung der Gesellschaft. 1916 behaupteten der »Alldeutsche Verband« und die DvP, Juden seien »Schieber«, die sich am Handel mit knappen Lebensmitteln bereicherten, und »Drückeberger«, die sich an der Front häufiger krankmeldeten als Nichtjuden. Zwar gab es keine Belege für diese Diffamierungen, aber Reichswehr und Regierung folgten den Thesen und blockierten die Beförderungen von Juden in Staatsämtern oder ihre Ernennung zu Offizieren.

Die militärische Niederlage des deutschen Kaiserreichs und die Novemberrevolution waren in den Augen der reaktionären Kräfte durch das »internationale Judentum« verschuldet. Der »Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund« und die Thule-Gesellschaft verbanden nun Antisemitismus mit der Dolchstoßlegende. Die in ihren Augen nationale Demütigung, Kriegsschuld, Niederlage, Revolution, Elend der Nachkriegszeit und die Auflagen des Versailler Vertrags waren das Ergebnis des Wirkens jüdischer Drahtzieher, auch der Marxismus und der Bolschewismus wurden verantwortlich gemacht. Diese »dunklen Mächte« seien dem »im Felde unbesiegten« Heer heimtückisch in den Rücken gefallen, um Deutschland fremden Mächten auszuliefern und alle kulturellen Werte der Nation zu vernichten. Als »Beleg« wurden die jüdischen Namen russischer und deutscher Revolutionäre aufgelistet.

Gezielt schikaniert

Während die Weimarer Verfassung keine Diskriminierung aus Gründen von »Religion und Rasse« kannte, blieben die reaktionären Kräfte bei ihrem Antisemitismus. Die kaisertreue Deutschnationale Volkspartei (DNVP) verlangte bereits 1919 ein Ende des Zuzugs und die Ausweisung von Ostjuden. In Bayern wurden osteuropäische Juden nach dem Kapp-Putsch 1920 von den Behörden gezielt schikaniert und zum Teil in Abschiebelagern interniert. Außerdem gab es in den 1920er Jahren zahlreiche Schändungen jüdischer Friedhöfe.

Insbesondere im konservativen akademischen Milieu zeigte sich Antisemitismus. 1921 schloss die DNVP Juden und Menschen mit einem jüdischen Elternteil aus der Partei aus. Die Deutsche Burschenschaft beschloss ebenfalls 1921 den Ausschluss jüdischer Mitglieder. Und Akademiker wie Wilhelm Stapel oder Edgar Julius Jung propagierten eine erneuerte Volkstumsideologie. Stapel glaubte, das deutsche und das jüdische Kollektiv seien unvereinbar, und forderte, den Zionismus zu unterstützen, um Juden zur Auswanderung zu drängen. Jung forderte eine Rückkehr zur Ständegesellschaft und gesetzliche »Dissimilation« der Juden.

Das politische System der Weimarer Republik galt in den Augen völkisch-nationalistischer Gruppen als »Judenrepublik«, führende demokratische Politiker wurden als »verjudet« bezeichnet. Die tödliche Konsequenz solcher Hetze erlebten die Politiker Matthias Erzberger und Außenminister Walther Rathenau.

Ausgrenzung aus der Gesellschaft

Das war der ideologische Bodensatz, auf dem die NSDAP ihr 25-Punkte-Parteiprogramm vom Februar 1920 formulierte. Hierin finden sich antisemitische Stereotype, wirtschaftspolitische Thesen, die jedoch nicht ökonomisch, sondern rassistisch legitimiert werden, und völkisches Denken, das antisemitische Zielvorstellungen legitimiert. Im Kern ging es darum, Jüdinnen und Juden ihre staatsbürgerlichen Rechte und Freiheiten abzuerkennen und sie als Menschen zweiter Klasse aus der Gesellschaft auszugrenzen. Weitere Beispiele für das ideologische Gebräu des Antisemitismus finden sich in Hitlers Machwerk »Mein Kampf«, das bis 1945 als »Bibel« der faschistischen Bewegung galt. Ein Zitat soll genügen, um die Absurdität der Thesen zu zeigen. »Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens Volke raubt. Mit allen Mitteln versucht er die rassischen Grundlagen des zu unterjochenden Volkes zu verderben. So wie er selber planmäßig Frauen und Mädchen verdirbt, so schreckt er auch nicht davor zurück, selbst in größerem Umfange die Blutschranken für andere einzureißen. Juden waren es und sind es, die den Neger an den Rhein bringen, immer mit dem gleichen Hintergedanken und klaren Ziele, durch die dadurch zwangsläufig eintretende Bastardierung die ihnen verhasste weiße Rasse zu zerstören, von ihrer kulturellen und politischen Höhe zu stürzen und selber zu ihren Herren aufzusteigen« (zit. aus Hitlers »Mein Kampf«, nach Schwarzbuch 1933, S. 46). In diesem Stil geht es über mehrere hundert Seiten.

Mit solcher Propaganda unterschied sich die NSDAP damals nur wenig von anderen antisemitischen und völkischen Gruppierungen. Noch fehlte ihnen die politische Durchsetzbarkeit. Wie weit diese Kräfte aber bereit waren, ihren Antisemitismus mit tatsächlicher Gewalt gegen jüdische Menschen zu verbinden, zeigte sich bereits im Krisenjahr 1923. Im Herbst griffen aufgehetzte Jugendliche und Arbeitslose Juden im Berliner Scheunenviertel an, drangen in ihre Geschäfte und Wohnungen ein, misshandelten Bewohner und raubten sie aus. Beim Hitlerputsch am 9. November 1923 in München nahm der »Bund Oberland« »jüdisch aussehende« Bürger als »Geiseln«. Danach wurde die faschistische Straßengewalt unter anderem der Sturmabteilung (SA) gegen Juden und politische Gegner alltäglich. Bezeichnend war, dass solche Übergriffe von Polizei und Justiz kaum verfolgt wurden.

Antisemitismus anschlussfähig

Antisemitismus in Propaganda und Aktion konnte schon in der Weimarer Republik wirksam werden, weil er dem Grundverständnis von völkisch-nationalistischen Kräften in der Bevölkerung entsprach. Gleichzeitig war Antisemitismus anschlussfähig für den konservativen Mainstream. Ob in Schulen, öffentlichen Einrichtungen, bei Vereinen oder in der Kirche, fast überall grassierte ein Antisemitismus, der »den Juden« für schier alles verantwortlich machte, was als negativ oder bedrohlich empfunden wurde. Juden waren »verantwortlich« für Niederlage, Versailler Vertrag, Kapitalismus oder Kommunismus, für Frauenemanzipation, Charleston-Tanz, Bubikopf oder modernes Theater, letzteres Symbole für die »verkommenen« »goldenen Zwanziger Jahre«.

Der Historiker Kurt Pätzold beschrieb die Schemata der antisemitischen NS-Demagogie äußerst prägnant: »Verloren Arbeiter ihren Arbeitsplatz, dann war ›jüdische Misswirtschaft‹ dafür verantwortlich. Blieben Kriegskrüppel, -waisen und -witwen sozial schlecht versorgt, so trug die ›Judenrepublik‹ daran die Schuld. Büßten Händler oder Handwerker ihre Existenz ein, waren sie von ›jüdischen Blutsaugern‹ zur Strecke gebracht. Stöhnten Bauern unter der Last der Hypotheken, die auf Haus und Feld lagen und unaufbringbare Tilgungs- und Zinszahlungen verlangten, waren sie Opfer ›jüdischer Zinsknechtschaft‹. Unterlag irgendjemand mit seinem Anliegen, gerechtfertigt oder nicht, vor einem Gericht, so verdankte er das dem ›jüdischen Rechtsempfinden‹.« (Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus, hrsg. Kurt Pätzold, Leipzig 1983, S. 12)

Auch Politik und Publizistik galt den reaktionären Kräften als »verjudet«. In der politischen Linken, den Parteien der Arbeiterbewegung, den Gewerkschaften, selbstverständlich in der Weltbühne von Carl von Ossietzky und Zeitschriften und Verlagen entdeckte man das »zersetzende Wirken der Juden«. Der Börsencrash an der Wall Street 1929 wurde »jüdischen Strippenziehern« angelastet. Leidtragend sei das deutsche Volk. Gleichzeitig verstärkte sich der Straßenterror der SA mit gewalttätigen Übergriffen gegen jüdische Menschen und ihr Eigentum.

Allein in dieser knappen Zusammenstellung wird deutlich, dass Antisemitismus im Deutschen Reich nicht erst mit der Etablierung der faschistischen Herrschaft ab 1933 virulent wurde. Und man kann festhalten, dass die Unterstützer der NSDAP diese nicht trotz ihres Antisemitismus, sondern im Bewusstsein ihrer radikalen Form der rassistischen Ausgrenzungspropaganda förderten.

Pogrome gegen Jüdinnen und Juden oder ihr Beginn verbinden sich hierzulande in der Regel mit einem Datum: Dem 9. November 1938. In den Tagen darum setzten die Nazis Hunderte von Synagogen, Friedhofshallen und jüdische Gemeindehäuser in Brand. Zudem plünderten und zerstörten sie abertausende jüdische Wohnungen, Läden sowie Warenhäuser. Rund 100 Jüdinnen und Juden wurden getötet, mehr als 20.000 wurden in Konzentrationslager wie Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Die Reichspogromnacht ist bundesweit Anlass für alljährliche Gedenkaktionen. Dieser Blick verstellt zuweilen, dass die Entrechtung von Jüdinnen und Juden und antisemitischer Terror eine lange Vorgeschichte haben. Dieses Spezial blickt auf die Zeit zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und 1933.

Zum Weiterlesen. Ulrich Schneider: Antisemitismus im Dritten Reich. Von der Ausgrenzung zum Völkermord. Eine Einführung. Papy-Rossa-Verlag, Köln 2021, Neue Kleine Bibliothek 300, 157 Seiten, 12,90 Euro

Siehe auch Rezension auf Seite 30  zu Antisemitismus in der Sprache.