Unübersehbar
6. November 2021
Vor 100 Jahren trat der Nazifaschismus in Erscheinung
Als sich die Nazis zu organisieren begannen und mit ihren ersten größeren Auftritten zugleich ihr faschistisches Wesen zu erkennen gaben, hielt sie so mancher ihrer Gegner eher für eine Randerscheinung, unbedeutend und einflusslos. Weit gefehlt, wie die Geschichte belegt und wie es wohl immer sein wird: Aus Kleinem kann Großes entstehen, aus dem, was zunächst ungefährlich daherkommt, zutiefst Unmenschliches. Zudem vollziehen sich Veränderungen oft in kleinen Schritten. Und jeder von ihnen ist wahr- und ernst zu nehmen. Wer dem Faschismus widerstehen wollte (und heute will), muss rechtzeitig und sorgsam auf alle Gefahrenzeichen achten. Für Antifaschisten bedurfte es von Anfang an konsequenter Haltung und Politik.
Unbekannte Art Politik?
Es war mehr als kleinliche Vereinsmeierei und bloßer Hintertreppenspuk, als 1919 die Deutsche Arbeiterpartei in Erscheinung trat und als sie im Februar 1920 ihrem Namen den Zusatz »nationalsozialistisch« hinzufügte. Man wollte auf bislang unbekannte Art Politik betreiben, eine Politik, die – entsprechend der Selbstbezeichnung der italienischen Schwarzhemden-Bewegung Mussolinis – als faschistisch zu bezeichnen war. Ihr Ziel: die Ergebnisse des verlorenen Krieges und der verhassten Novemberrevolution so rasch und so gründlich wie möglich rückgängig zu machen. In ihrem Visier: die organisierte Arbeiterbewegung, die Weimarer Verfassung sowie Demokratie und Parlamentarismus.
Dies entsprach dem Hoffen und Wollen eines generell friedensfeindlichen, militant-terroristischen und rassistischen Teils der deutschen Eliten. Diese stritten untereinander über Wege, auf denen ihre Ziele zu erreichen möglich sein sollte. Ihre unterschiedlichen Konzepte ließen auch in der jungen NSDAP konträre Auffassungen aufeinanderprallen. Dabei ließen sie insbesondere zwei Schritte zu dem werden, was sie als Faschistenpartei auswies. Der eine Schritt erfolgte unmittelbar vor dem Kapp-Lüttwitz-Putsch, als sie sich ein Programm gab. Der nächste erfolgte 1921, als nach der Klärung konzeptioneller Fragen die Zusammensetzung der Führung ausgefochten wurde und sich die Gruppe um Hitler durchzusetzen vermochte.
Einer der militärischen Förderer der NSDAP, Karl Mayr, hatte die Richtung gewiesen: Die neue Partei sollte eine »Organisation des nationalen Radikalismus« sein (siehe Marginalie). Mayrs Worte fanden Eingang in das Parteiprogramm. Gerichtet sah sich alles gegen Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Pazifisten, Demokraten und Liberale, gegen Demokratie und Parlamentarismus, gegen die »Systemparteien« und ein angeblich jüdischen Interessen dienendes Parteienwesen, gegen ethnische Minderheiten, die pauschal als »Nicht-Deutsche« rassistischen Verdikten unterworfen werden sollten. Viele der 25 Punkte blieben relativ unbestimmt und vielfältig deutbar. Gleichermaßen zynisch wie offenherzig begründete Hitler dies, als er von einem Werbeprogramm sprach, das »psychologisch richtig auf die Seele derjenigen eingestellt« sein müsse, »ohne deren Hilfe die schönste Idee ewig nur Idee bleiben würde«.
Ringen um Führung der NSDAP
Alle konzeptionellen Auseinandersetzungen gipfelten 1921 im Ringen um die Führung der Partei. Gegen Hitlers Kurs und Machtanspruch meldeten sich zunächst Kritiker zu Wort. Gewettert wurde gegen den »König von München«, gegen »demagogische Schädlinge und diktatorische Streber«. Aber das passte nicht in das Konzept jener, die eine Aktivierung der NSDAP und ihrer terroristisch-demagogischen Methoden zur Gewinnung größerer Anhängerscharen betrieben. Auf theatralisch anmutenden Umwegen setzten sich die Kreise um Hitler durch: Der »Werbeobmann« erklärte am 11. Juli 1921 seinen Austritt aus der Partei. Mag dieser Schritt aus Unnachgiebigkeit, aus Enttäuschung über die eigene Ausstrahlungskraft oder als berechnendes Druckmittel erfolgt sein – die Partei geriet dadurch in ein Dilemma, denn er konnte als gewiefter Demagoge und »Trommler« der Partei nicht mehr entbehrt werden. Seine Gegner gaben nach, auch weil sie die von ihm beabsichtigte Gründung einer anderen Partei fürchteten. Hitler zeigte sich daraufhin rasch und sozusagen gnädig bereit, seinen Austritt zu revidieren. Jedoch formulierte er am 14. Juli sechs Bedingungen, von deren Realisierung er seinen Wiedereintritt abhängig machte. Zugleich forderte er für sich den Posten des ersten Vorsitzenden. Eine außerordentliche Mitgliederversammlung wählte ihn zum Vorsitzenden der NSDAP und sprach ihm diktatorische Vollmachten zu.
Dieser Weg zu einer diktatorisch geleiteten, auf jegliches demokratisches Gebaren verzichtenden bürgerlichen Partei lag in der Sache begründet: Wie anders konnte ein terroristisches Regime angestrebt werden als mit einem allein Gebietenden, einem Auserwählten oder angeblich von Gott Begnadeten an der Spitze. Die in jener Zeit weit verbreiteten allgemeinen Hoffnungen auf einen neuen »Führer« boten zugleich einen tragfähigen Boden für eine sich schrittweise steigernde Beweihräucherung und Verherrlichung Hitlers, die sich zu einem schließlich umfassenden und teilweise auch makabre Formen annehmenden Kult um ihn auswuchsen.
Der militärische NSDAP-Förderer Karl Mayr gab vor: »Wir werden, und zwar nicht im parlamentarisch geruhsamen Tempo der deutsch-nationalen Volkspartei, einen glühenden Nationalismus pflegen. Bolschewismus, Separatismus, Aufgehen in westlerischer Pseudokultur und wirtschaftliches Helotentum von Englands und Frankreichs Gnaden werden wir mit Hörnern und Klauen bekämpfen.«