Egozentrischer Zeitgeist
7. Januar 2022
»Von Hitler emanzipieren« will Per Leo die deutsche Erinnerungskultur
Das neue Buch von Per Leo wurde im Spätsommer viel im deutschen Feuilleton diskutiert und gefeiert. Noch nie habe jemand sich getraut, so sehr gegen alle Seiten auszuteilen. Redaktionsmitglieder und Autor*innen der antifa haben das Buch gelesen und sich darüber ausgetauscht, hier eine Zusammenfassung ihres Gesprächs.
Regina: Es ist wichtig, das Buch zu besprechen, weil es in den meisten Rezensionen zu gut weggekommen ist. Es wirkt so, als ob potenzielle Kritiker*innen, die normalerweise Einspruch einlegen würden, vor der Medienwirksamkeit des Per Leo kapitulieren und es eben so hinnehmen. Ich denke, wir sollten uns als VVN mehr an solchen Positionen, die in der Öffentlichkeit für Wirbel sorgen, reiben. Er behandelt die Themen unseres Verbandes und stellt zumindest erhellende Fragen. Wie vermitteln wir die historische Wahrheit über den Holocaust und über den Faschismus? Wie können wir ein nicht-institutionalisiertes und nicht-ritualisiertes Gedenken wach halten in einer Zeit, in der scheinbar unendlich viele Themen um Aufmerksamkeit kämpfen? Wie können wir mit historischem Bewusstsein gegen faschistische Tendenzen heute vorgehen? Und er spricht auch unangenehme Themen an, die wir eher vernachlässigen.
Kristin: Ich mag eigentlich die Analyse von Diskursen – zum Beispiel, wenn sie auf dem Blauen Sofa bei der Buchmesse, in der »Kulturzeit« und anderen prominenten Formaten stattfinden. Aber Leos Analyse ist hinter sehr lauter Kritik oft nur oberflächlich. Er teilt massiv aus, ohne seine Meinung wirklich zu begründen. Das Buch lässt sich schwer lesen, weil es dauernd Widerspruch weckt. Ich erfahre aber nichts weiter, weil der Autor kaum Begründungen liefert und sofort zu anderen (Neben-)Themen springt. Ein Beispiel: Am Schluss des Buches fasst er noch einmal zusammen, was er kritisch sieht, u. a. sind es die NS-Vergleiche, zu denen die NS-Erinnerungskultur wohl einlädt. Dann kommt der Satz: »Die utopisch gestimmte Jugend blickt aus Sicht der Ökodiktatur von morgen auf die Dieselfahrer von heute mit der gleichen Verachtung wie auf die Nazimitläufer von gestern.« Wie kommt er darauf? Ich frage mich, warum er sein persönliches Unbehagen in dieser Form und dem Umfang mit allen teilen muss.
Thomas: Was mich ärgert, ist die Selbstgerechtigkeit, mit der Per Leo an das Thema herangeht. Er provoziert mich mit Sätzen wie: »Die Lasten des Nationalsozialismus sind weitgehend abgetragen, die Aufträge, die er uns hinterlassen hat, alles in allem erfüllt, die Fragen, die er aufwarf, größtenteils beantwortet. Was bleibt, ist die Macht einer Geschichte, die uns mit einer Fülle von Geschichten umgibt.« Ja, er hat offenbar viel gelesen. Das muss er aber auch ständig beweisen. Die FAZ und viele andere haben sich davon blenden lassen und erkennen irgendetwas Neues bei ihm. Aber er hat durchaus nicht alles gelesen und schon gar nicht das Relevante zum Thema. So behauptet er zum Beispiel, dass es vor dem Historikerstreit der 80er Jahre keine richtige Holocaust-Forschung gegeben hat.
Kurz gesagt: Die zentralen Quellen und Forschungen zum Thema werden nicht ausgeführt, weshalb auch die Schlüsse daraus zwar pointiert daherkommen, aber die Leser*innen unwissend zurücklassen. Laut eigener Aussage ist er auch nur so was wie ein »Erzählwissenschaftler« (S. 108) – eine Mischung aus Historiker, Denker, und Schriftsteller. Das ist seine Legitimation für Ungenauigkeit, für Getue und Gespreize. Aber gerade weil sein Buch so daherkommt, ist es auch so populär.
Nils: Ja, er beschäftigt sich mit unseren Themen und stellt auch richtige Fragen, aber er analysiert die Gedenkpraxis von unten überhaupt nicht, sondern nur die von oben. Dass die madig ist, wissen wir schon lange. Das immer mal wieder kundzutun ist gut, hilft uns aber nicht weiter bei der Etablierung einer anderen. Er hat uns schlicht nichts Praktisches anzubieten. Stattdessen trampelt er auf dem tätigen Antifaschismus rum. Ob die Interventionen gegen den Verkauf von Nazi-Devotionalien auf Flohmärkten, Ausschlussversuche von rechten Verlagen bei der Frankfurter Buchmesse oder die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit gegen AfD-Mitglieder (Höcke, Storch usw.), die Kampagne »Nationalismus ist keine Alternative« und die klare Haltung gegen rechte Pro-Kohle-Aktivist*innen – das ist ihm alles zu plump und zu selbstgerecht.
Ich lese darin nicht nur Neid, sondern vor allem taktisches Unverständnis, wie mit faschistischen Positionen hinsichtlich der Protagonist*innen, aber auch im gesellschaftlichen Diskursrahmen umzugehen ist. Dass von Zeit zu Zeit diesen Positionen Raum genommen werden muss und zwar tatkräftig und so laut, dass allen die Symbolwirkung klar wird, kommt ihm nicht in den Sinn. Wenn es nach ihm ginge, sollten alle sagen und machen dürfen, was sie wollen, und der Staat das Ganze garantieren.
Thomas: Per Leo hat einfach viel zu großes Vertrauen in liberale Werte. Dass die bei den kleinsten Störungen relativiert werden, ja sogar permanent an deren Abschaffung gearbeitet wird (siehe Versammlungsgesetze, Militarisierung des Grenzschutzes usw.) bekommt er aufgrund seiner Position im Elfenbeinturm nicht mit. Vom »Reden mit Rechten« ist Per Leo zum »Schimpfen mit Linken« übergegangen. Und auch deshalb wird er so gemocht, weil er sich klar von antifaschistischem Engagement distanziert. Wohin sein Liberalismus führt, schreibt er ja auch: »Der AfD kann in ihrer gegenwärtigen Verfassung kein vernünftiger Mensch etwas anderes wünschen als Misserfolg.« Ich frage mich, in welchem Zustand die AfD sein muss, damit sie für vernunftbegabte Leute wie Per Leo wählbar und damit erfolgreich wird. Alle, die nach 1945 dachten, dass der Schoß, in dem der deutsche Faschismus entstand, fruchtbar ist und deshalb eingehegt werden muss, auch gegen den Willen der deutschen Bevölkerung, schüren seiner Meinung nach irrationale Ängste. Die nationalliberale Weltsicht verträgt keine Abgrenzung nach rechts.
Regina: Sein Problem ist, dass er Meinungen einzeln darstellt, aber nicht ihren Zusammenhang und die Weltanschauungen dahinter. Die Geschichtswissenschaft ist genauso politisch umkämpft wie andere Bereiche auch. So kann Leo nicht verstehen, warum es für den Philosophen Habermas 1986 wichtig war, mit den Historikern in der Frage der Relativierung des Holocaust Streit anzufangen. Dass es darum ging, die Schlussstrichbefürworter – die mit der Relativierung des Holocaust auch Politik nach innen wie außen machen wollten – exemplarisch zurückzudrängen, kann er nicht nachvollziehen, denn der Frage, wie sich politische Kräfteverhältnisse verändern, stellt er sich nicht. Wie veränderte sich der deutsche Umgang mit dem Faschismus? Per Leo sieht hier eine Art Vernunft walten, wohl vergleichbar mit dem »zu sich kommen« des Hegelschen Weltgeistes. Das ist bestenfalls naiv. Dass Weizsäcker 1986 den 8. Mai als Tag der Befreiung bezeichnete, ist keine logische Konsequenz aus vernunftgeleiteten Sachurteilen, die durch breite Forschung möglich wurden, sondern ein Ergebnis harter politischer Auseinandersetzungen. Wo wir heute in Sachen Erinnerung stehen, ist das Resultat von Kämpfen, an denen Per Leo sich nicht beteiligen will.
Kristin: Unter ideologischen Vorannahmen Geschichte anzuschauen ist nie gut. Aber die Kontextvergessenheit, die er aller Welt vorwirft, praktiziert er auch selbst, um seine Argumentation zu stützen. So will er die DDR in Sachen Grundlagen des Neonazismus der 90er Jahre in Schutz nehmen und behauptet, dass die BRD mindestens genauso schlimm war: »Nicht von ungefähr jedenfalls fanden die ersten rassistischen Pogrome nach dem Nationalsozialismus nicht in Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen statt, sondern in Solingen und Mölln«. Politisch verstehe ich sein Ansinnen, aber die Pogrome von Hoyerswerda (17. September 1991) und Rostock-Lichtenhagen (22. und 26. August 1992) fanden vor den Morden in Mölln (23. November 1992) und Solingen (29. Mai 1993) statt. Mölln und Solingen waren Anschläge kleinerer Gruppen, während in Hoyerswerda und Rostock ein Mob -brandschatzte und von Anwohnenden angefeuert wurden.
Dennoch sind in Leos Buch auch gute »punchlines« drin, die schmunzeln lassen. »Die Aufklärung des Verbrechens und das Eingeständnis, dass die Perspektive des Opfers dem Täter nicht zur freien Verfügung steht« ist einfach ein kluger Satz. Davon gibt es viele, auch wenn ich ihm die Konsequenzen daraus nicht abnehme. Er beweist nicht, dass er auch versteht, »dass die einzige Alternative zu einer gefühligen Erinnerungskultur und das einzig wirksame Mittel gegen den Hochmut der Schuldvergessenheit in einer lebendigen Geschichtskultur lagen – und liegen«. Wie salopp er dann doch mit den Opfern umgeht, zeigt sein fröhlicher Zynismus. Die deutsche Positionierung für ein Existenzrecht Israels nennt er »post-arischen Streberzionismus« und bezeichnet den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung (die Stelle wurde erkämpft!) als »ranghöchsten Anti-Antisemiten«. In der Rezension auf hagalil wird ihm deshalb auch dieses krampfhafte Provozieren auf dem Rücken des zumeist berechtigt vorgebrachten Antisemitismusvorwurfs vorgehalten.
Thomas: Ich selbst habe zum gleichen Thema, nämlich zur Instrumentalisierung des Holocaust in der deutschen Erinnerungspolitik, 2016 ein Buch geschrieben: »Auschwitz als Steinbruch. Was von den NS-Verbrechen bleibt« (PapyRossa). Das wurde nicht breit besprochen, hat auch nicht für Kontroversen gesorgt. Wir kommen auf solche Ebenen, auf denen sich Per Leo bewegt, nicht vor. Nicht auf den Messen, in den -Magazinen, in den Rezensionen oder Empfehlungen. Per Leos Essay ist Ausdruck des Verfalls von Diskurs. Er bringt nichts Konstruktives, macht sich über alles lustig, verharmlost die extreme Rechte, und der Mainstream lässt es eben zu und freut sich, dass da einer sagt: Ihr tragt keine Verantwortung – lasst diese »Tränen ohne Trauer« einfach sein. Kann sein, dass sich Per Leo einfach nur selbst gefallen wollte, sich ein Denkmal bauen, sein fragmentarisches Denken in all dessen »Unaufgeräumtheit« darstellen wollte – aber diskurspolitisch spielt das keine Rolle.
Das Gespräch wurde von Nils Becker zusammengefasst.