Schlimmer als gedacht
7. Januar 2022
NS-Kontinuitäten in der Bundesanwaltschaft
Der Anteil der ehemaligen NSDAP-Mitglieder in den höheren Diensträngen der Bundesanwaltschaft pendelte je nach Jahr zwischen 60 und fast 80 Prozent. Schaut man auf die Oberstaatsanwälte in den 1950er Jahre waren zeitweise alle von ihnen vor 1945 in der NSDAP. Die alten Seilschaften funktionierten prächtig; selbst ein Vorantreiben von Todesurteilen war kein Karrierehindernis. Ihre Pensionen bekamen sie alle bis zum Schluss.
Mit »Staatsschutz im Kalten Krieg. Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF« von Friedrich Kießling und Christoph Safferling hat nun auch die Bundesanwaltschaft ein Buch zu ihrer NS-Vergangenheit. Mittlerweile gehört so etwas zum guten Ton einer bundesrepublikanischen Behörde. Die Autoren beschreiben nach der Vorgeschichte im Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus den Aufbau, die Entwicklung und die Arbeit der Bundesanwaltschaft von 1950 bis 1974. Durch Zugang zu bisher unerschlossenen Akten können sie Akzente in der bisherigen Geschichtsschreibung verschieben. So zeigen sie zum Beispiel, dass die Bundesanwaltschaft von der Bundesregierung in der Spiegel-Affäre zurückgepfiffen werden musste. Wegen Verdachts auf Landesverrat wurden die Redaktionsräume des Magazins 1962 durchsucht. Der Spiegel sollte geheime militärische Informationen in einem kritischen Artikel preisgegeben haben. Hatte er nicht. Doch die Bundesanwaltschaft ermittelte bis 1966 und bewies damit alleinig, dass sie Artikel 5 des Grundgesetzes, die Presse- und Meinungsfreiheit, noch nicht verinnerlicht hatte.
Die Autoren rahmen ihre Darstellung mit Überlegungen zu einem, wie sie schreiben, demokratischen Staatsschutz. Hier liegt nun auch die Schwäche der Studie. Erschließt sie einem breiten Publikum einerseits wichtige Zahlen und gibt somit Akteneinsicht, verkennt sie politische Zusammenhänge und übergeht bereits bekannte politikwissenschaftliche wie juristisch zeitgeschichtliche Erkenntnisse. Die Einlassungen zum demokratischen Staatsschutz können entsprechend überlesen werden.
Bedauerlich ist, dass die Autoren hinreichend widerlegte Mythen erneut wiedergeben. Neben der »zähen Nachkriegslegende« (Ingeborg Maus), mit der sich die Nazirichter später vor der eigenen Verantwortung drückten (»Wir mussten uns doch an die Gesetze halten.«), bemühen die Autoren einmal mehr die Metapher vom blinden rechten Auge. Sie meinen, dahinter auch noch ein Fragezeichen setzen zu müssen. Sehbehinderte Menschen können schon mal nichts für die fehlende Strafverfolgung von rechten Gewalttaten. Aber wie sollen rechte Gewalttaten strafverfolgt und in ihrer Dimension richtig bewertet werden, wenn die gesamte Führungsriege zu 100 Prozent aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besteht? Bis in die 1990er Jahre hinein hat die Justiz die rassistische Dimension von Straftaten nicht verstanden.
Die Bundesanwaltschaft surfte selbstverständlich ganz oben auf der antikommunistischen Welle und musste gar nicht so viel anders machen als »früher«. Die Ermittlungen zu Schändungen jüdischer Friedhöfe oder Angriffen auf Synagogen in den frühen 1950er Jahren werden durch antisemitische und rassistische Perspektiven geprägt, exakt so wie beim Mord an Frida Poeschke und Shlomo Levin 1980 oder bei der NSU-Mordserie in den 2000er Jahren. Bis heute werden die antisemitischen Angriffe in den 1950er Jahren als »Schmierwelle« verharmlost. Das waren antisemitische Drohungen, die so kurz nach der Shoah eine erschreckende Wirkung entfalten konnten. Um das zu begreifen, muss man wissen, was es heißt, verfolgt zu werden. Den Antikommunismus der Bundesanwaltschaft schildern die Autoren unverblümt. Doch auch hier wird die Liste der rechten Angriffe lang sein, wenn man sie als politisch motivierte Straftaten erkennt. Da der Antikommunismus aber deutsche »Integrationsideologie« (Christoph Kleßmann) war, waren solche Taten nicht im Blick. In welchen Ermittlungsakten soll man suchen, wenn gar nicht erst ermittelt wurde?
Gemeinhin laufen die Ergebnisse der Behördenforschung auf eine Läuterungsgeschichte hinaus. Heute sind alle angekommen in Rechtsstaat und Demokratie. Aber warum hat es so lange gedauert, bis die Bundesanwaltschaft die rechte Terrorserie in Berlin-Neukölln als solche anerkennt und ermittelt? Was vielen diesen Studien fehlt, ist eine Ahnung davon, wie Personen mit Rassismus- und/oder Verfolgungserfahrung solche Ämter bekleidet, solche Behörden aufgebaut hätten. Sie hätten vor allem keine Nazis in Justiz und Exekutive geduldet und diese auch noch als Demokratieschützer verkauft. Bis heute bleibt unerforscht, welche institutionellen Kontinuitäten sich aus den personellen entwickelten. Wäre die mörderische rechte Terrorwelle der 1980er früher erkannt worden? Hätten Menschenleben gerettet werden können? Die Autoren gehen diesen Fragen leider nicht nach, obwohl sie die entscheidenden sind.