Alle Opfer – keine Täter?
7. März 2022
Was von der Erinnerungskultur an die Nazizeit bleibt
Gestern ist auch morgen. Der »neue« Antisemitismus und die bittere Tatsache, dass Zeitzeugen der NS-Diktatur immer weniger für die alltägliche Aufklärungsarbeit zur Verfügung stehen, sind zwei Anlässe, grundsätzlich neu über die Gestaltung des Gedenkens und der Erinnerung nachzudenken. Mindestens ebenso bedeutsam für diese Arbeit sind der gesellschaftliche Wandel, z. B. in der Migrationsgesellschaft und das zunehmende Desinteresse gegenüber der weiteren Aufarbeitung des NS-Zivilisationsbruchs.
Ein Wendepunkt
Die Vergangenheitsvergegenwärtigung steht an einem Wendepunkt. Bereits ein Jahr nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus hat der Philosoph Karl Jaspers in seinen Vorlesungen zur Schuldfrage eine tiefgreifende Änderung des Diskussionsverhaltens gefordert: »Deutschland kann nur wieder zu sich kommen, wenn wir Deutschen in der Kommunikation zueinander finden. (…) Wir wollen lernen, miteinander zu reden. Das heißt, wir wollen nicht nur unsere Meinung wiederholen, sondern hören, was der andere denkt. Wir wollen nicht nur behaupten, sondern im Zusammenhang nachdenken, auf Gründe hören, bereit bleiben, zu neuen Einsichten zu kommen.« Jaspers Lektion forderte eine »schonungslose Ehrlichkeit« der Deutschen für diesen Läuterungsprozess. Angesichts der aktuellen Konfliktlinien zu Pro und Contra der NS-Erinnerungsarbeit gehört nicht viel Fantasie dazu festzustellen, dass diese Forderung Jaspers unerfüllt geblieben ist. Notwendig ist eine Perspektiverweiterung für eine zukunftsfähige Auseinandersetzung mit den unfassbaren Menschheitsverbrechen des NS-Faschismus – ohne Schlussstrichnarrativ.
In der Publikation »Das neue Unbehagen an der Erinnerungsarbeit« von Aleida Assmann habe ich Anregungen für diese Aufgabe gefunden.
Sie plädiert für ein »dialogisches Erinnern« im europäischen Kontext: »Dialogisches Erinnern hat eine besondere Chance in einem Staatenverbund wie Europa: Hier könnte es in Zukunft stärker darum gehen, durch Formen gegenseitiger Annäherung und der Anerkennung des dem anderen zugefügten Leids die monologischen Schranken der nationalen Gedächtnisse durchlässiger zu machen und durch differenziertere und komplexere Gedächtniskonstruktionen die transnationale Integration zu stärken« (S. 202). Der europäischen Bildung käme es zu, ein Verständnis für die Traumata der Nachbarn »insbesondere derjenigen, die man selbst verursacht hat«, zu fördern. Aleida Assmann sieht in einer kontinuierlichen Praxis des dialogischen Erinnerns herausragende Möglichkeiten, auf der Grundlage eines gemeinsamen Wissens, »um wechselseitige Täter- und Opferkonstellationen in einer geteilten traumatischen Gewaltgeschichte« eine gegenseitige Anerkennung nationaler Geschichtsbilder zu generieren.
Assmann ist dabei wohltuend sachlich in ihrer Kritik an der vorherrschenden Erinnerungsarbeit als »monologisches Erinnern«. Sie fordert eine Einbindung der Erinnerungsarbeit ins Hier und Jetzt – in die Gegenwart – und thematisiert beispielhaft die NSU-Mordserie, den Amoklauf von Halle und die Ermordung Walter Lübckes als gegenwärtigen rechtsradikalen und antisemitischen Terror in Deutschland.
Deutlich formuliert die Autorin auch ihre Kritik an der deutschen Erinnerungskultur bezogen auf die Selbstzufriedenheit und die anscheinend kollektive Übereinkunft der meisten Deutschen, Hitlers Opfer gewesen zu sein. Für sie ist das angesichts der Millionen Ermordeten eine Anmaßung, eine Abwehr gegen jede Verantwortungsübernahme.
Assmann beschreibt diese Haltung, »sich selbst als Opfer zu inszenieren« als »komfortable moralische Position, weil sie sich als ein Abwehrschirm gegen jede Mitverantwortung an historischen oder neuen Verbrechen einsetzen lässt«.
Mitverantwortung elementar
Ich folge auch den Kritikpunkten und Absichten von Aleida Assmann für eine ergänzende Öffnungsperspektive für die persönliche Erinnerungsarbeit zwischen dem feierlichen zeremoniellen Gedenken einerseits und den institutionellen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten andererseits. Ich gehe davon aus, dass NS-Erinnerungsarbeit nur dann nachhaltig sein kann, wenn Mitverantwortung für den deutschen NS-Arisierungswahn übernommen wird. Verantwortungsübernahme bekommt aber nur dann eine Chance, wenn dabei eine Identifizierung mit Werten und Normen, etwa den Menschenrechten, stattfindet.
Dies kann, muss und soll gelernt werden, z. B. durch kollektive Erinnerungsarbeit – wie sie u. a. Robert Hamm beschreibt. Die Methode der kollektiven Erinnerungsarbeit holt das Subjekt in den Mittelpunkt der Reflexions- und Handlungserweiterung. Sie wurde ursprünglich von der Sozialpsychologin Frigga Haug in verschiedenen Frauenforen während der 70er- und 80er-Jahre an der Freien Universität Berlin entwickelt. Inzwischen wird sie mit vielfältigen thematischen Anlässen und Themen rund um den Globus in akademischen und nicht-akademischen Projekten angewendet.