Das Schweigen hält an

geschrieben von Frank Nonnenmacher

13. Mai 2022

Tiefsitzende Vorurteile: Die mit dem grünen und dem schwarzen Winkel

Ja, man könnte meinen Onkel Ernst als typischen »Vagabunden« der 1920er- und 1930er-Jahre bezeichnen. 1908 in Stuttgart geboren, wuchs er unter den Bedingungen dramatischer ökonomischer Krisen nach dem Ersten Weltkrieg und der Massenarbeitslosigkeit auf. Seine Mutter, eine »Ledige«, hatte von zwei verschiedenen Männern je einen Sohn, wurde beide Male »sitzen gelassen« und verdingte sich als rechtlose Weißbüglerin stundenweise bei reichen Leuten. Sozial war sie ausgestoßen und verachtet. Die Fürsorge wurde aufmerksam und nahm ihr Gustav, den jüngeren Sohn, meinen Vater, weg und gab ihn ins Waisenhaus.

Klassenbewusster Proletarier

Ernst war schon früh ein Schulschwänzer, trieb sich herum und trug zum Lebensunterhalt bei, indem er Ausschau nach allem hielt, was man »organisieren« konnte. Essbares vom Wochenmarkt, Obst aus den Kleingärten, Hausbrand vom Kohlenlaster oder Wäsche von der Leine, die man »verfuggern« konnte. Er kam in ein »Erziehungsheim«, wo er Korbflechten lernen musste, riss dort aus und wurde dann als junger Mann Wanderarbeiter, erfolgloser Bauchladenverkäufer und begnadeter Kneipendiskutierer. Er begeisterte sich für die Fürstenenteignung 1926 und war beim »Blutmai« 1929 in Berlin dabei. Und immer mal wieder kam er ins Gefängnis, meist wegen Diebstahls, Hehlerei, Verstoßes gegen die Meldegesetze, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Hehlerei, Widerstand bei der Festnahme und, weil er zeitweise mit Maria zusammen war, die auch mal »anschaffen« ging, wegen Zuhälterei. Die Strafen nahm er – immer ohne Anwalt – wie unvermeidbare Schicksalsschläge hin, und ohne eine bürgerliche Lebensperspektive entwickeln zu können. Er verstand sich als klassenbewusster Proletarier, der nichts hatte als seine in der historischen Situation nicht »nachgefragte« Arbeitskraft.

Prof. Dr. Frank Nonnenmacher ist emeritierter Professor für Politische Bildung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Foto: Eva Fischer Ffm

Prof. Dr. Frank Nonnenmacher ist emeritierter Professor für Politische Bildung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Foto: Eva Fischer Ffm

Die Nazis entwickelten für solche Menschen spezielle Kategorien und Behandlungsweisen. Sie erklärten »Asozialität« und »Kriminalität« für genetisch bedingt und vererbbar. Sie wollten die deutsche Gesellschaft von diesen »Krankheiten« heilen, indem sie diese Menschen in die Konzentrationslager sperrten und in großer Zahl umbrachten. »Asoziale« machte man ausfindig, indem man Razzien in Obdachlosenheimen und städtischen Parks durchführte, von Fürsorgeämtern und Wohlfahrtsverbänden Informationen abgriff. »Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher« erkannte man daran, dass sie wiederholt straffällig geworden waren.

Von Kripo aufgegriffen

So wurde auch mein Onkel Ernst nach seiner letzten Strafhaft unmittelbar von der Kripo gegriffen und erst ins KZ Flossenbürg, dann ins KZ Sachsenhausen verschleppt, ohne richterliche Befugnis, ohne konkreten Straftatvorwurf, unanfechtbar und ohne zeitliche Befristung. Sowjetische Soldaten befreiten ihn und die anderen Überlebenden im April 1945.

Ernst wurde in Flossenbürg erst mit dem schwarzen Winkel der »Asozialen« markiert, vermutlich weil er als Wanderarbeiter und Nichtsesshafter für die Nazis unter diese Kategorie fiel, bekam aber nach kurzer Zeit dann den grünen Winkel der »Berufsverbrecher«, wohl wegen seiner Vorstrafen. Er kam in ein Strafkommando in einen Granitsteinbruch und sollte dort »durch Arbeit vernichtet« werden, hatte dann aber großes Glück; weil er Korbflechten konnte, wurde er in ein weniger brutales Kommando zur Reparatur von Geschosskörben nach Sachsenhausen verlegt.

Nach dem Ende des Faschismus eröffnete er mit seinem ihm zum Freund gewordenen kommunistischen Kameraden Fritz Fiege eine Korbmacherei. Fritz wurde als Rotwinkler sofort im zuständigen Landratsamt als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt und bekam Unterstützung. Ernst nicht. Fritz hatte gehört, dass ein kommunistischer Mithäftling, Otto Auerswald, inzwischen in Zwickau Polizeipräsident geworden war. Die beiden Freunde fuhren hin, redeten lange mit Otto, und dieser erklärte einige Tage später die Chancenlosigkeit von Ernsts Antrag im OdF-Ausschuss so: »Wir müssen alles tun, dass die Ablehnung, die auch bei uns, sogar bei den sowjetischen Freunden gegenüber den KZ-Häftlingen besteht, abgebaut wird. Da stehen viele auf dem Standpunkt: Wer im Faschismus überlebt hat, kann kein Widerstandskämpfer gewesen sein. Bei denen stehen ja selbst russische Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter im Verdacht, Kollaborateure der Nazis gewesen zu sein. Beweis: Sie haben überlebt! Und die Deutschen denken doch sowie so, dass jeder, der im Lager war, schon etwas verbrochen haben wird. Das hat man ihnen zwölf Jahre lang eingebläut. In dieser Situation können wir es uns nicht erlauben, uns nachsagen zu lassen, dass wir uns mit Kriminellen auf eine Stufe stellen.« (Nonnenmacher, 2015, S. 269)

Schweigen über Nazizeit

Die Freundschaft zwischen Fritz und Ernst zerbrach. Ernst ging nach Frankfurt und Mainz, arbeitete im Straßenbau, wurde aktiver Gewerkschafter in der IG BSE und Betriebsrat. Über seine Zeit im KZ schwieg er fortan, wie fast alle Häftlinge mit dem schwarzen und dem grünen Winkel.

»Wir können uns nicht erlauben, uns nachsagen zu lassen, dass wir uns mit Kriminellen auf eine Stufe stellen.« Dieses Motto hat ganz offensichtlich jahrzehntelang das Verhältnis der Politischen zu den Mithäftlingen mit anderen Winkelfarben als der roten geprägt. Nach dem Krieg gab es Versuche von Häftlingsorganisationen, die »grünen« Häftlinge einseitig zu beschuldigen, Helfershelfer der SS gewesen zu sein, unter anderem um eigene Kooperationen mit der SS zu relativieren. Die Häftlinge mit dem grünen und dem schwarzen Winkel haben sich nie dagegen gewehrt: Sie haben die schon vor 1933 und nach 1945 weiterhin existente gesellschaftliche Diskriminierung verinnerlicht, haben sich nie als Opfergruppe zu Wort gemeldet und haben keine Erinnerungsliteratur geschrieben. Wie tiefsitzend die Vorurteile waren, zeigt die Tatsache, dass der ansonsten untadelige Eugen Kogon in seinem wichtigen Werk »Der SS-Staat« von den »verbrecherisch veranlagten« Grünwinkligen schrieb und damit die Naziideologie von der genetischen Veranlagung fortschrieb.

Die SS setzte Häftlinge aller Winkelfarben als Vorarbeiter, Blockälteste oder Kapos ein: kommunistische, sozialdemokratische, bürgerliche, »asoziale«, jüdische, »kriminelle«, deutsche und nichtdeutsche, Männer und Frauen. Sie alle wurden in das Dilemma gezwungen, einerseits Mithäftlinge auf Befehl zu schikanieren, weil das andererseits das eigene Überleben bedeuten konnte. »Nichtsdestoweniger war selbst der schlimmste Kapo immer noch ein Gefangener. Keiner von ihnen wusste, ob er morgen noch am Leben sein würde.« (Wachsmann, S. 598 et passim)

Wahl zwischen zwei Übeln

In einem Dilemma befindliche Personen haben nur die Wahl zwischen zwei Übeln, die kaum gegeneinander aufgerechnet werden können: die befohlenen Schindereien durchzuführen, um das eigene Überleben zu ermöglichen, oder bei mangelndem Gehorsam der Vernichtung anheimzufallen. Manchen gelang die gefährliche Gratwanderung. Ein möglicher Ausweg aus einer dilemmatischen Position ist der Rückfall in eine primitive Moralstufe, der »konventionellen« Moral (Kohlberg). Dann gilt das Motto: »Befehl ist Befehl; ich bin nicht verantwortlich«.

Manche haben dem Druck nicht widerstanden und die SS-Befehle im Übermaß ausgeführt. In der Nachkriegszeit gab es einige Prozesse gegen Kapos aller Winkelfarben, die sich schuldig gemacht hatten; es gab in Israel Prozesse gegen jüdische Kapos, die mit Verurteilungen endeten.

Es hätte gerade marxistisch geschulten kommunistischen Häftlingen gut angestanden, darauf hinzuweisen, dass die ökonomische Situation und die materielle Lage eines Menschen sein Bewusstsein und sein Verhalten bestimmen. Gerade in jenen schlimmen Wirtschaftskrisen der 1920er- und 1930er-Jahre war so manches »asoziale« oder »kriminelle« Verhalten ein Ergebnis einer verzweifelten persönlichen Lage. Delinquentes Verhalten wie ein Einbruch in eine Villa, ein illegaler Abbruch einer Schwangerschaft oder regelmäßiges Betteln können in vielen Fällen als Akt der Notwehr in der Klassengesellschaft gesehen werden.

Fehlende Anerkennung

Viele Antifaschisten der Gründungsjahre dieser Republik konnten das nicht so sehen. Sie haben im Gegenteil dafür gesorgt, dass die grün- und schwarzwinkligen Mithäftlinge von Anerkennung und Entschädigung ausgeschlossen blieben. So z. B.
als in Hamburg 1947 durch entsprechende Intervention ehemaliger »roter« KZ-Häftlinge eine »einheitliche Lösung der Wiedergutmachungsfrage für alle« dazu führte, dass »Asoziale« und »Kriminelle« anstandslos ausgeschlossen wurden (siehe Christa Paul, S. 67, insb. 82 ff.).

Auch in Stuttgart folgte man damals dem Zeitgeist, als Antifaschisten der VVN in der »KZ-Prüfstelle« im »Hotel Silber« dafür sorgten, dass Anerkennung als Opfer und Entschädigung den »Asozialen« und »Kriminellen« grundsätzlich verweigert wurden.

Oder als die politisch Verfolgten des Comité International de Dachau (CID) 1962 dafür sorgten, dass in dem Kettenrelief des zentralen Mahnmals von Nandor Glid die schwarzen und die grünen Winkel fehlen. (Riedle/Schretter, 2015, S. 105)

Mir ist nicht bekannt, dass die VVN oder VVN-BdA in ihrer langen Geschichte ihre Rolle bei der über sieben Jahrzehnte anhaltenden Diskriminierung der von den Nazis »Asoziale« und »Berufsverbrecher« genannten KZ-Opfer z. B. in einer Tagung, Veröffentlichung oder Stellungnahme selbstkritisch reflektiert hätte. Ich kenne lediglich die Stellungnahme vom Oktober 2019, in der auf Initiative der AG Neuengamme sieben Organisationen – wenige Wochen vor der entscheidenden Ausschusssitzung – den Deutschen Bundestag auffordern, die als »Asoziale«, »Berufsverbrecher« und »Sicherungsverwahrte« Bezeichneten endlich anzuerkennen. Die VVN-BdA schloss sich hier an.

Ich finde, eine eigene, selbstkritische historische Rückschau wäre angebracht. Bei der Gelegenheit könnte die VVN-BdA gleich auf die Mängel des Bundestagsbeschlusses vom 13. Februar 2020 hinweisen. Die skandalöse Ausblendung der nach dem »Polenstrafrecht« verfolgten und ermordeten »Sicherungsverwahrten« sowie die immer noch ausstehende Regelung zur Finanzierung der Forschungen zu den Verfolgungsinstanzen sowie für die Forschungen über Opferbiografien der KZ-Häftlinge mit dem grünen und dem schwarzen Winkel sollte die VVN-BdA anklagen. Wer denn sonst.

Mit dem »Gewohnheitsverbrechergesetz« vom November 1933 schafften die Nazis den pseudolegalen Rahmen, um Menschen wie Ernst Nonnenmacher als »Berufsverbrecher« (»BVer«) in die KZ zu bringen und dort in großer Zahl zu ermorden. Sie wurden mit einem grünen Stoffdreieck auf der Brustseite der Häftlingskleidung markiert. Nach einem Abkommen zwischen Heinrich Himmler und Justizminister Otto Georg Thierack vom 18. September 1942 wurden auch Langstrafler »bei nicht genügenden Justizurteilen« aus den Gefängnissen geholt und zur »Vernichtung durch Arbeit« in die KZ gesperrt. Besonders hart traf dies Menschen, die im polnischen Besatzungsgebiet nach dem »Polenstrafrecht« vom 4. Dezember 1941 wegen geringer, zum Teil lächerlicher Vergehen zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt waren. Allein im KZ Mauthausen wurden von 11.098 »SVern« 60,5 Prozent ermordet.

Als »Asoziale« und damit als »Ballastexistenzen« kategorisierten die Nazis z. B. Wohnsitzlose, Bettelnde oder Alkoholkranke, aber auch Swing tanzende Jugendliche oder andere unangepasst Lebende. Sie wurden in den KZ mit einem schwarzen Winkel markiert. Von Anerkennung und Entschädigung wurden diese Menschen nach 1945 ausgeschlossen.

Im April 2018 übergab Frank Nonnenmacher dem Bundestagspräsidenten einen Appell an den Deutschen Bundestag (link: change.org/vergessene-opfer) zur Anerkennung dieser NS-Opfer. Am 13. Februar 2020 beschloss dies der Bundestag einstimmig. Die nach dem »Polenstrafrecht« verurteilten und ermordeten »SVer« blieben unerwähnt.

Literatur:

Frank Nonnenmacher: DU hattest es besser als ICH. Zwei Brüder im 20. Jahrhundert. Mit einer Widmung von Konstantin Wecker. Westarp-Verlag 2015 (2. Aufl.)

Christa Paul: Frühe Weichenstellungen. Zum Ausschluss »asozialer« Häftlinge von Ansprüchen auf besondere Unterstützungsleistungen und auf Entschädigungen. In: Fritz Bauer Institut (Hg.): Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit. Frankfurt 2008

Andrea Riedle, Lukas Schretter (Hg.): Das Internationale Mahnmal von Nandor Glid. Berlin 2015

Nikolaus Wachsmann: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. München 2018