Haus der Macht

geschrieben von Peps Gutsche

13. Mai 2022

Ein Lesebuch über weibliche Erfahrungen

Das Wort »herumtreiben« weckt unterschiedliche Assoziationen: ziellos, nicht an einem Ort bleibend, ungezügelt, (sexuell) ungebunden. Es weckt Bilder von Freiheit, die sich genommen wird, ebenso wie gesellschaftlich abwertende Bilder vermeintlicher sozialer Randgruppen.

Diese Assoziationen bündelt Bettina Wilpert mit viel Gespür für Atmosphäre. Sie erzählt die Geschichten junger Frauen in verschiedenen historischen Kontexten vom Nationalsozialismus bis in die Gegenwart. Ein (fiktives) Gebäude in der Leipziger Lerchenstraße verbindet dabei die Erlebnisse der jungen Frauen. Da ist Lilo, die in den 1940ern mit ihrer Familie Widerstand leistet und deshalb verhaftet wird. Da sind die namenlos bleibenden Zwangsarbeiterinnen, Jüdinnen, Romnja und Sintezze, die hier inhaftiert und später deportiert werden. Deren vielstimmige Gedanken und Hoffnungen, Wünsche und Träume nehmen nur wenig Worte in dem Roman ein, wecken dafür aber einen größeren Resonanzraum. Da ist die Jugendliche Manja, die in der DDR nach der ersten romantischen Begegnung mit dem schwarzen Vertragsarbeiter Manuel auf einer Station für Geschlechtskrankheiten zwangsinterniert wird. Später trifft sie dort ihre Freundin Maxie wieder, die gegen die sommerliche Tristesse des Alltags durch ihren Kontakt zu Punks rebelliert. Die Mittzwanzigerin Robin, die 2015 am gleichen Ort als Sozialarbeiterin in einer Unterkunft für Geflüchtete arbeitet, führt die Geschichten in die Gegenwart.

Das Buch beschreibt die staatliche Gewalt über den und am weiblichen Körper, ist dabei aber nicht gewalttätig. Dies gelingt, da die Widerständigkeit und die Entscheidungsmacht der porträtierten Frauen in den Vordergrund gerückt wird. Bettina Wilpert fängt auf der Schablone der ersten Gefühle jungen Verliebtseins die Willkür staatlichen Handelns ein. Ohne die einzelnen Verbrechen zu relativieren, wird der Umgang mit Zwangsarbeiter_innen und Haftinsass_innen im NS in eine Reihe gestellt mit den Zwangsmaßnahmen gegen Frauen in der DDR, die als vermeintlich »arbeitsscheu« »sexuell freizügig« oder »krank« stigmatisiert wurden, da sie sich nicht dem System anpassten.

Bettina Wilpert: Herumtreiberinnen.Verbrecher Verlag, Berlin 2022,  272 Seiten, 25 Euro

Bettina Wilpert: Herumtreiberinnen.Verbrecher Verlag, Berlin 2022,
272 Seiten, 25 Euro

Die Gefühlswelten der jungen Frauen werden für die Leser_innen erlebbar. Zentral ist dabei das Erleben Manjas auf der Venerologischen Station, der sogenannten Tripperburg. Ein Ort, der zwischen Zwangsbehandlungen und Langeweile keinen Platz für weibliche Solidarität bietet, aber dafür viel Raum, die Verschiedenartigkeit der dort festgehaltenen Frauen aufzuzeigen. Wilperts Protagonistinnen sind dabei eigensinnig und ecken mit ihrem Verhalten bei ihren Familien ebenso an wie in den jeweiligen Gesellschaften. Sie akzeptieren nicht, wie sie zu sein haben, sondern wehren sich gegen gesellschaftliche Ansprüche und werden auf der anderen Seite den gesellschaftlichen Abwertungen und Anforderungen unterworfen. Zusammengeführt wird dies durch Robin, die im Keller des Gebäudes die Akten derjenigen findet, die in der DDR hier zwangsweise festgehalten wurden, und als Sozialarbeiterin immer wieder mit der Diskriminierung von Geflüchteten konfrontiert ist.

Insgesamt ein gelungener Transfer historischer Umstände in eine fiktive Erzählung. Denn der beschriebene Gebäudekomplex ist angelehnt an einen real existierenden in der Riebeckstraße 63 in Leipzig, dessen Geschichte eine Initiative aus Leipzig aufarbeitet.

Mehr Informationen unter: riebeckstrasse63.de