Lebendig machen
13. Mai 2022
Eine Medienkritik zur Instagram-Geschichte @ichbinsophiescholl
Sophie Scholl, von West bis Ost zur Ikone des deutschen Widerstands stilisiert, war schon häufig Figur deutscher Erinnerungs- und Unterhaltungskultur. Die letzten zehn Monate im Leben der Sophie Scholl »emotional, radikal subjektiv und in nachempfundener Echtzeit« nachzuerzählen, schickte sich das Medienprojekt @ichbinsophiescholl des SWR und BR an. Anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl im letzten Jahr, wollten sie sie »aus den Geschichtsbüchern ins Hier und Jetzt holen« und »ihren Weg zu beispielloser Zivilcourage« abbilden.
Gewählt wurde dazu die »fiktionale Interpretation einer historischen Figur«, umgesetzt durch Fotos und Videos, die im sozialen Netzwerk Instagram bereitgestellt wurden. Im für die Plattform üblichen Stil eines Tagebuchs mit Bildern konnten die Nutzer_innen miterleben, wie Sophie Scholl ihren 21. Geburtstag feierte, wie sie sich in den Wehrmachtsoffizier Fritz Hartnagel verliebte und Zweifel an dieser ersten Liebesbeziehung verspürte. Sie begleiteten Sophie auf dem Weg, sich der »Weißen Rose« anzuschließen, Flugblätter zu vervielfältigen, Unterstützer_innen für den Widerstand zu finden und erlebten den berühmten Flugblattstoß vom Geländer des Lichthofs der Münchener Universität sowie die anschließende Verhaftung live mit.
Fiktion …
Das Projekt orientierte sich also an historisch belegbaren Ereignissen in Sophie Scholls Leben und hielt diese Meilensteine für ein breites, uninformiertes Publikum aus Teenagern und jungen Erwachsenen fest. Die Zwischenräume, sogenannte historische Lücken und Unklarheiten, wurden »kreativ und in Abstimmung mit den Expert*innen« geschlossen. Die Instagram-Nutzer_innen interessieren sich nämlich für den Alltag der Menschen, deren Kanäle sie abonnieren. Und so wurden kurzerhand spannende Details aus Sophie Scholls Leben, die so nicht belegbar sind, erfunden. Zum Beispiel Sophie Scholl als Feministin dargestellt: Ihr Frust darüber, dem Bruder immer hinterherräumen zu müssen; ihre positive Haltung zu Abtreibungen und der Verwendung von Kondomen, die im Lichte ihrer starken christlichen Überzeugung und Prägung nicht plausibel erscheint. Wie sie nicht schlafen kann, weil ihr Bruder im Nebenzimmer zu laut Sex hat. Wie sie Pillen einschmeißt, sogenannte Panzerschokolade, die der Bruder von der Ostfront mitgebracht hat, um beim Flugblätterdrucken auch mal die Nacht durchmachen zu können. Sophie, wie sie den Tod ihres geliebten Fritz vortäuscht, um rationierte Briefmarken zur Verschickung der Flugblätter zu erhalten. Das hat es alles nicht gegeben.
… und Wahrheit
Sophie Scholls Vergangenheit beim Bund Deutscher Mädel (BDM), in dem sie sich über die verpflichtende Zeit hinaus engagierte, kommt kaum vor. Dass ihre Sorge um die sterbenden jungen deutschen Soldaten im Allgemeinen und Fritz Hartnagel im Besonderen wohl der Grund gewesen sind, der sie zum Widerstand gebracht hat, wird ebenfalls nicht explizit gemacht. Der Einsatz ihres Bruders an der Ostfront wird als dauernde Party dargestellt, obwohl der Russlandfeldzug eines der blutigsten Ereignisse des vorigen Jahrhunderts war. Da die historischen Ereignisse für die Nutzer_innen kaum kontextualisiert werden, sind die Kommentarspalten voll mit Beiträgen, die von den Erfahrungen deutscher (Ur-)Großväter an der Ostfront berichten, wie sie sich weigerten zu schießen (die Mär des Großteils der Deutschen im Widerstand) oder von der Roten Armee brutal erschossen wurden. Noch bizarrer wurde es, wenn Nutzer_innen der fiktiven Sophie Scholl Tipps und Tricks für den Widerstand unterbreiteten.
Das Team um den Instagram-Account relativierte diese Kommentare nicht, sondern sprach Beileidsbekundigungen aus. Die beauftragte Historikerin Dr. Maren Gottschalk erklärte das Verzichten auf »Fußnoten«, um die dargestellten Ereignisse für das Zielpublikum einzuordnen, damit, dass diese schlichtweg »out« seien und offenbarte damit das Kernproblem des Projekts: Erklärt man die Nutzer_innen von vornherein für unfähig und an historischer, faktengetreuer Bildung uninteressiert, muss man sich auch nicht an Fakten halten. Historische Ereignisse werden in ihrer Faktizität so beliebig wie die von Sophie Scholl vor laufender Kamera zubereiteten Kohleintöpfe.
Würdevolles Erinnern an die Ermordeten des Nationalsozialismus und den Widerstand dagegen wird in Zukunft, wenn keine Zeitzeug_innen mehr leben, wohl noch an Relevanz gewinnen. Das Medienprojekt @ichbinsophiescholl zeigt uns vor allem, wie wir es nicht machen sollten. Die Konsequenz ist dabei nicht, die sozialen Medien zu ignorieren. Gerade um junge Menschen zu erreichen, werden wir Strategien entwickeln müssen. Geschichte durch Fiktion für ein Massenpublikum attraktiv zu machen, wird davon allerdings kein Teil sein. Junge Menschen generell zu unterschätzen ebenfalls nicht.