Erinnern heißt verändern!

geschrieben von Conny Kerth/Andreas Siegmund-Schultze

1. Juli 2022

Zum Pogrom vor 30 Jahren in Rostock-Lichtenhagen

Das »Sonnenblumenhaus« im Stadtteil Rostock-Lichtenhagen, vor dem sich im August vor 30 Jahren Tag für Tag mehr Nazis und ein rassistischer Mob zusammengerottet haben, wo Flüchtlinge und vietnamesische ArbeiterInnen beschimpft, bedroht und beinahe umgebracht wurden, steht noch heute als Symbol für das Pogrom von 1992. Seltener wird jedoch eine Verbindung zum Rathaus der Stadt gezogen, in dem die Entscheidung getroffen wurde, die öffentliche Ankündigung der Zusammenrottung als »Einladung zu einem Sommerfest mit Asylanten« zu bewerten. So drückte es der damalige Oberbürgermeister Kilimann (SPD) noch nach den Ereignissen vor Kameras aus und meinte wohl, alles richtig gemacht zu haben. Jedenfalls war kein Wort des Bedauerns zu hören – von keinem der Verantwortlichen, die in der immer noch sehenswerten Dokumentation »The Truth lies in Rostock« (Die Wahrheit liegt (lügt) in Rostock) zu Wort kamen.

Wochenlang schon herrschten 1992 in der Zentralen Aufnahmestelle (ZASt) im Sonnenblumenhaus unhaltbare und für die darin und vor allem davor lebenden Menschen untragbare Zustände: Überbelegung, Dreck und Müll, mangelnde Versorgung, Verweigerung des Zutritts zum Gebäude, teilweise mit Körpereinsatz. Dass in der öffentlichen Diskussion den verrohten Nachbarn »unhaltbare Zustände«, die sie den Flüchtlingen selbst anlasteten, zur Legitimierung ihrer Mittäterschaft am versuchten Mord bescheinigt wurden, ist eine zynische Umkehrung der Verhältnisse. Schließlich wurde auch die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl zur notwendigen Konsequenz aus dem Pogrom erklärt.

Die Bilder, die zeigen sollten, dass Deutschland der »Asylflut« nicht mehr gewachsen sei, waren Bilder der Roma, denen der Zugang zur ZASt verweigert wurde, die draußen kampieren mussten, Menschen, denen kein Wasser, Brot, Dach über dem Kopf und kein »Ort« für ihre Notdurft angeboten wurden. Bilder, die an jene Bilder erinnerten, die wir aus Geschichtsbüchern kennen. Bilder von denen, die die Nazibesatzer im Osten als »Untermenschen« darstellten, bevor sie sie umbrachten. Überlebende und Nachkommen der Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti kennen das nicht aus Büchern. Sie sind Teil ihrer Erinnerung. Sie begleiten sie täglich. Und nun mussten sie erleben, dass erneut Menschen von johlenden Massen bedroht, ihr Haus angezündet wurde.

Nie wieder sollte es geschehen, doch es gibt wieder Opfer faschistischen und rassistischen Terrors in Deutschland – nicht nur in Rostock. Aber die Bilder von der johlenden Menge von Lichtenhagen, die von keiner Polizei gestoppt und von dem brennenden Haus, das über Stunden von keiner Feuerwehr gelöscht wurde, gingen um die Welt.

So kam am 19. Oktober 1992 eine Delegation der »Söhne und Töchter der deportierten Juden aus Frankreich« unter Leitung von Beate Klarsfeld und in Begleitung von Rudko Kawczynski von der Rom und Sinti Union, um am Rostocker Rathaus eine Gedenktafel anzubringen, die ihr Entsetzen zum Ausdruck brachte. Sie wurden von der Polizei mit massiver Gewalt daran gehindert, die Tafel anzubringen. Mehrere junge Männer wurden verhaftet und erst Tage später nach nachdrücklicher juristischer und politischer Intervention freigelassen.