Gratwanderungen
1. Juli 2022
Krieg und Flucht: Zwei neue Biografien beeindrucken durch Nachdrücklichkeit
Wie ist es zu flüchten? Eine brennende und aktuelle Frage angesichts der russischen Invasion in der Ukraine – es ist die größte Fluchtbewegung seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Millionen Menschen verlassen ihre Heimat, um der Bedrohung zu entkommen. Wir sind Zeugen durch die Berichterstattung in den Medien. Flucht endet niemals.
Christiane Hoffmann und Abbas Khider skizzieren ihre jeweiligen persönlichen Fluchtgeschichten in besonderen kulturellen Kontexten – in Deutschland/Europa (Hoffmann) und im Irak/Asien (Khider). Die Biografien der Flüchtenden sind eingebettet und berühren durch die Zeit und die Ereignisse. Krieg, Flucht und Vertreibung führen Regie in den Lebensläufen.
Christiane Hoffmann (geb. 1967, Beruf: Journalistin) wiederholt 2020 zu Fuß den Fluchtweg ihres 2018 verstorbenen Vaters Walter Hoffmann von Schlesien gen Westen im Jahr 1945 – ca. 550 Kilometer. Der Vater war damals acht Jahre alt. 800 Jahre hatte die Familie Hoffmann in Rosenthal (Rozyna), Schlesien, gelebt. Dann 1943 kam der NS-Vernichtungskrieg im Osten Europas zum Stillstand. Die Rote Armee Russlands vollzog erfolgreich ihre Gegenoffensive. Walter Hoffmann floh im Treck.
»Sprich mit mir, Vater!«
Christiane Hoffmann schreibt mit emotionaler Ergriffenheit während ihres 40tägigen Fußweges über die Fluchtgeschichte des Vaters – verknüpft sie mit ihren Erfahrungen. Dabei »spricht« sie permanent mit ihm. Eigentlich fordert sie: Sprich mit mir, Vater! Aufgewachsen ist die Verfasserin in Wedel bei Hamburg – eine heile Welt: »Ich wachse im Schutz der Dunantstraße auf, in der Geborgenheit einer Straße … am Rand von Wald und Wiesen« (S. 252).
Das Buch ist wie ein Tagebuch angelegt. Hoffmann beklagt, dass ihr Vater ihr nicht seine Fluchtgeschichte vermittelt hat. Es ist teilweise eine Anklage an ihn, weil er ihr sein Flucht-Familienerbe nicht anvertraut hat. Deshalb sucht sie mit der Wiederholung seines Fluchtweges ihre Vergangenheitsvergegenwärtigung. Sie sucht nach ihrer Geschichte, sie sucht ihre Heimat. Mit ihrer Reise in die Vergangenheit, in die Heimat ihres Vaters, versucht sie ihre Heimat zu konstruieren.
Das Buch ist voller Schwermut geschrieben: »Flucht war immer Menschenschicksal, Kriegsschicksal. Neu ist, dass wir verstehen, wie lange diese Flucht wirkt, bis in die dritte Generation« (S. 56). Hoffmann schreibt mit schier erbarmungsloser – »gegen« sich und »gegen« die Leser:innenschaft – Offenheit über diese politisch diktierte Flucht und ihre persönlichen Verletzungen. Das Fluchtregime am Ende des Weltkriegs erscheint ihr ganz persönlich eingeschrieben: »Die Vergangenheit ist nicht vergangen« (S. 47). Im virtuellen Zweiergespräch mit ihrer Herkunftsfamilie, mit ihrem Vater: »Was für euch stimmt, nehme ich als meines an, als sei ich auch geflüchtet in Todesgefahr, als hätte ich auch erlebt, wie alles von einem Tag auf den nächsten verloren gehen kann, als hätte ich auch einen Bruder verloren. Ich lerne die Angst, ich verstehe sie nie …« (S. 255 f.). Und weiter an ihren Vater adressiert: »Das ganze Leben nach der Flucht, die Familie, lebenslange Freundschaften, Gott, die Verbeamtung, all das ist ein Bollwerk gegen die existenzielle Unsicherheit. … Nach der Flucht verlässt du nie wieder den Ort, an dem du angekommen bist« (S. 256).
Vergangenheitsvergegenwärtigung
Christiane Hoffmann gibt sich als zweite Kriegsgeneration gefangen und gelähmt: »Du kommst in Wedel an, aber ich bleibe heimatlos … Ich bin krank vor Heimweh« (S. 257). Und wie in einer selbstgestalteten Therapie: »Es ist meine Aufgabe, deine Geschichte zu erzählen, du hast mir das aufgetragen, obwohl nie davon die Rede war« (S. 209). Verzweifelt ringt sie um die Ermöglichung des Tabubruchs: Sie ersehnt die offene Vergangenheitsvergegenwärtigung, während alle und alles auf die Vermeidung, ja Auslöschung, dieser Erinnerung bestanden haben und bestehen. Und sie bindet fast zwanghaft ihre Töchter in dieses Schicksal ein: »Ich wollte diese Herkunft in sie einbringen wie ein Brandmal, damit sie es nie vergessen würden …« (S. 216). Der Tabubruch wider das Vergessen ist ihr Credo: »Diese Fluchtgeschichte war unser Familienerbe … Es ist an mir, deine Geschichte zu erzählen, die Welten zu verbinden, das Erbe anzureichern, die Erinnerung zu speichern, zu konservieren, einen Vorrat für kommende Generationen anzulegen, ihn zu horten und zu hüten. Dieses Buch ist dein Testament. Ich will deine Geschichte bewahren, damit unsere Kinder sich erinnern können« (S. 209).
Abbas Khider (geb. 1973, Beruf: Schriftsteller) lebt seit dem Jahr 2000 in Deutschland. Er wuchs in Bagdad unter den auch innenpolitisch katastrophalen Lebensbedingungen des Irak-Iran-Krieges auf. Khider beschreibt in der Person des Migranten Said Al-Wahid (s)eine Fluchtgeschichte vom Irak nach Westeuropa. Das Buch von Khider über seinen Protagonisten ist ein literarisches Werk, aber etliche biografische Fakten und Passagen teilen sie sich: Said Al-Wahid ist in sehr vielen Lebensbezügen Khider. Er wurde wegen politischer Aktivitäten im Irak verhaftet und gefoltert. Während der jahrelangen Flucht vom Irak nach Deutschland erfuhr er Leid, Bedrohungen und verstörende Situationen. Sein Vater und seine Schwester wurden im Irak ermordet. Politisches Asyl bekam er in Deutschland.
Die Fluchtgeschichte von Said – alias Khider – ist eine schier unendliche, aber der Autor verzichtet fast vollständig auf starke, pathetische Töne. Der Text ist ausgesprochen deskriptiv gehalten; nur manchmal verweisen die Formulierungen auf die Verzweiflung des Protagonisten Said während seiner jahrelangen Flucht. Zu seiner Welt gehören zwei verschiedene Kulturen: »Es ist, als hätte Said eine Affäre, von der keiner erfahren soll, eine mit sich selbst. Er ist wie ein Januskopf. Das eine Gesicht ist für alle sichtbar, zeigt sich allen, so wie sie es sich wünschen. Das andere Gesicht ist verschleiert, verborgen, rückwärtsgewandt, kauert allein und freiwillig eingesperrt. Das ist Said Al-Wahid, ein verstecktes Ich und ein sichtbares Ich, die unvereinbar sind, aber dasselbe Schicksal teilen müssen« (S. 29). Also: zwei unverträgliche Ich-Anteile, zwei unverträgliche Identitäten, die sich im Dauerkonflikt befinden. Said ist immer wieder damit konfrontiert, seine ethnische Herkunft – zugunsten einer Anpassung an die Kultur des Asyl gewährenden Landes – zu verstecken, zu verleugnen.
Fast unbeschreibliche Odyssee
Etwa 15 Jahre nach Beginn der Flucht aus dem Irak, circa zehn Jahre nach der Ankunft in Deutschland als Asylsuchender erwirbt er in der Bundesrepublik (s)einen deutschen »Reisepass mit der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis« (S. 17). Fazit: »Er war ein Inländer auf Papier geworden« (S. 17). Immer und überall trägt er diesen Reisepass mit sich herum. Eine prototypische Erfahrung Saids in einer Berliner Kneipe: »Ein Mann geht auf ihn zu: ›Ich nehme an, du bist kein Deutscher‹. ›Wie bitte?‹, fragt Said höflich. ›Du bist kein Deutscher‹, wiederholt der Mann … ›ich besitze die deutsche Staatsangehörigkeit‹. ›Papier ist Quatsch. Woher kommst du?‹« (S. 61). Rassismus und Sexismus prägen die Alltagswelt von Said – auch in Deutschland. Er – Person of Colour, lange tiefschwarze Haare – ist häufig Opfer von Racial Profiling. Das sind Akte von öffentlicher Demütigung bis hin zu physischem Leid und psycho-sozialen Verletzungen und Krisen. Eines Tages erhält er von seinem Bruder Hakim telefonisch die Nachricht, dass seine Mutter in Bagdad im Sterben liegt. Während der Vorbereitung für seine »Heim«-Reise in den Irak und während des Fluges lässt er seine dramatische Fluchtgeschichte noch einmal Revue passieren.
Sein Bruder Hakim holt ihn am Flughafen ab: »Hakim schaut seinen Bruder an und erzählt ihm, dass ihre Mutter vor ein paar Stunden gestorben sei« (S. 111). Hakim fährt Said zur Halle, wo die Mutter aufgebahrt liegt. Im Rahmen der Trauerfeierlichkeiten auf irakischem Boden fühlt er: »alles ist anders, alles ist fremd. Er denkt, ihm reichen die zwei Minuten, die er heute in der Leichenhalle mit seiner Mutter verbringen konnte« (S. 120). Bereits beim letzten Mal, als er vor Jahren in Bagdad war, hielt er es nicht lange in dieser Heimat aus – »und kehrte wieder zurück in die erträgliche Fremde« (S. 74) Deutschlands. Mit seinem Bruder vereinbart er, nur noch am folgenden Trauertrag in Bagdad zu bleiben. Said bereitet sich zum Schlafen in der ersten und gleichzeitig letzten Nacht in Bagdad vor: »Endlich laufen Tränen über die Wangen von Said Al-Wahid« (S. 125).
Warum trägt das Buch den Titel »Der Erinnerungsfälscher«? Said Al-Wahid – alias Khider – generiert eine ganz persönliche Erinnerungskonstruktion, weil ihm seine Vergangenheitsvergegenwärtigung immer wieder zu missglücken scheint: »Es ist ein Schock … Nichts schien vollständig zu sein, kein einziges Erlebnis in seiner Erinnerung … Allein der Versuch, sich zu erinnern, kostete ihm viel Energie … Das Erinnern war eine Last, eine harte innerliche Arbeit« (S. 46). Ein Arzt empfahl ihm eine Traumatherapie. Aber er wollte »verhindern, dass irgendjemand in seiner Vergangenheit bohrte« (S. 47).
Als Leser oder Leserin dieses Buchs kann man vermuten, dass diese »schwere Gedächtnisstörung« (S. 45) dem Autor als Metapher für das oben beschriebene janusköpfige (Ich-Spaltung) Fluchtschicksal des aus dem Irak geflüchteten und in Deutschland als Asylberechtigter anerkannten Said Al-Wahid dienen könnte. Etwa im zweiten Drittel des Buchs werden verschiedene – durch Gewalt, Existenzunsicherheit und Diskriminierung geprägte – Fluchtpassagen des Said beschrieben. Hierbei äußert Said alternative Erinnerungsspuren. Wahr oder falsch? Said Al-Wahid »hofft, dass die ganze Geschichte … keiner dieser seltsamen Scherze seines verspielten Gedächtnisses ist. Er hofft, dass das alles wirklich so war« (S. 93).
Es gibt noch einen weiteren versteckten Hinweis des Autors auf die Identitätsdramatik im Leben von Said: An verschiedenen Stellen seiner Fluchtgeschichte greift Said wie magisch angezogen zum Buch »Die Taube« von Patrick Süskind. Immer wieder wird er aber durch unerwartete Fluchtereignisse gestört. Schließlich findet er am Ende seiner Flucht die Ruhe, das Buch vollständig zu lesen. Die Hauptperson im Buch von Süßkind, Jonathan Noel, ist traumatisiert worden durch die NS-Vergangenheit und beschließt, ein Leben in großer Zurückgezogenheit zu führen. Doch eines Tages steht eine Taube in seinem Hausflur. Jonathan Noel wird durch diese Taube aus dem Gleichgewicht geworfen. Halt und Stabilität im Leben des Jonathan Noel verschwinden von einer Sekunde auf die andere.
Ich empfehle ausdrücklich die Lektüre beider Bücher, weil sie die Durchdringung von Person und Sozialkultur unter den Bedingungen von Krieg, Flucht und Vertreibung mit beeindruckender Nachdrücklichkeit spiegeln. Zwei Gratwanderungen der Erinnerungsarbeit.
Der Autor Harry Friebel über sich:
»Meine Fluchtgeschichte: Ich war knapp zehn Monate alt, als meine Mutter im Frühsommer 1944 mit mir und meinem drei Jahre alten Bruder von Insterburg/Ostpreußen aus im Treck gen Westen floh. Mein Vater war noch mit seinen Knobelbechern als Gefreiter der NS-Wehrmacht im ›Ostfeldzug‹ gegen die Sowjetunion beschäftigt. Aber die NS-Wehrmacht war schon geschlagen; die Rote Armee hatte endgültig die Initiative übernommen. Also wir waren (ohne Vater) auf der Flucht: drei Monate lang. Später erzählte uns unsere Mutter, dass sie sich immer, wenn sowjetische Jagdflugzeuge am Himmel auftauchten, auf uns warf: um uns zu schützen. Ich weiß nicht, was das mit mir tat.«