Heuchelei und Schein
1. Juli 2022
Zu den Versuchen der BRD, Ansprüche von italienischen NS-Opfern zu blockieren
Deutschland hat im Streit um Entschädigungszahlungen wegen Naziverbrechen im Zweiten Weltkrieg in Italien vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) am 29. April 2022 in Den Haag Klage gegen Rom eingereicht. Deutschland will verhindern, dass italienische Gerichte weiterhin über die Ansprüche von NS-Opfern entscheiden. Es geht vor allem um Prozesse ehemaliger NS-Zwangsarbeiter, darunter viele sogenannte Militärinternierte, die von Deutschland keine Entschädigung erhalten haben. Die Überlebenden der Naziverbrechen bzw. deren Nachkommen klagen vor italienischen Gerichten, weil sie keine andere Möglichkeit haben, zu ihrem Recht zu kommen. Die Bundesregierung verweigert beharrlich jegliche Zahlungen.
Deutschland hat zum zweiten Mal den IGH angerufen, um seine Interessen gegen die NS-Opfer durchzusetzen. Dadurch sollen u. a. bereits ergangene Urteile außer Kraft gesetzt werden. Außerdem fordert Deutschland Entschädigungszahlungen von Italien. Dieser Schritt ist rechtsmissbräuchlich, denn der IGH hat keine Kompetenz, um über die Ansprüche von Individuen zu entscheiden. Der IGH ist nur für zwischenstaatliche Konflikte zuständig. Das erneute Ansinnen Deutschlands stellt einen Angriff gegen die NS-Opfer, aber auch gegen die Unabhängigkeit der italienischen Justiz und das Prinzip der Gewaltenteilung dar.
Das höchste Gericht der Vereinten Nationen hatte vor zehn Jahren nach einem langen Rechtsstreit geurteilt, dass Deutschland sich auf den Rechtsgrundsatz der Staatenimmunität stützen dürfe und dass Klagen von NS-Opfern vor Zivilgerichten unzulässig seien. Der IGH hatte schon damals seine Kompetenzen überschritten. Daher entschied das italienische Verfassungsgericht 2014, dass die Entscheidung aus Den Haag für die italienischen Gerichte nicht bindend sei. Die Bürgerinnen und Bürger müssten im Fall von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit die Möglichkeit haben, vor Gericht ihr Recht zu suchen. Trotz einer Vielzahl von Verurteilungen durch italienische Gerichte missachtet Deutschland diese Entscheidungen. Deutschland erklärt sich für immun und behauptet, dass Klagen vor Zivilgerichten im Ausland nicht zulässig seien.
Die italienischen Kläger sind nun dazu übergegangen, deutsche Liegenschaften in Italien zwangsversteigern zu lassen. Es handelt sich um Liegenschaften in Rom, in denen sich die Deutsche Schule, das Goethe-Institut, das Archäologische Institut und das Deutsche Historische Institut befinden. Am 25. Mai soll ein Vollstreckungsgericht in Rom entscheiden, ob diese Liegenschaften zwangsversteigert werden.
Deutschland wollte ursprünglich den IGH dazu bringen, durch vorläufige Maßnahmen die anstehenden Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen deutsche Liegenschaften zu stoppen. Doch bevor darüber beim Gericht verhandelt werden konnte, wurde dieser Antrag zurückgenommen. Nach Medienberichten sei dies deshalb geschehen, weil zum 1. Mai in Italien ein Gesetz in Kraft getreten sei, dass es Gerichten verbiete, deutsches Staatseigentum auf italienischem Boden zu konfiszieren. Offenbar hat die deutsche Regierung mit der italienischen einen schmutzigen Deal zu Lasten der Opfer durchgesetzt. Im Ergebnis wird dies die Prozesse in Italien nicht verhindern können, aber so lange verzögern, bis die letzten Überlebenden der NS-Verbrechen tot sind. Dies ist das schäbige deutsche Kalkül: die biologische Lösung der Entschädigungsfrage.
Mit der Klage in Den Haag beweist Deutschland einmal mehr, dass all die warmen Worte an Gedenktagen für die Opfer der NS-Verbrechen nur Heuchelei und schöner Schein sind. Wenn es darauf ankommt, verhält Deutschland sich wie ein Schurkenstaat und tritt die Rechte der NS-Opfer mit Füßen. Die meisten Opfer der NS-Verbrechen haben bis heute keine Entschädigung erhalten.
Seit dem Pariser Reparationsabkommen von 1946 ist die Bundesrepublik zur Zahlung von Entschädigungen in Höhe vieler hundert Milliarden gegenüber den einzelnen von Nazideutschland überfallenen Ländern verpflichtet. Gezahlt wurde so gut wie nichts. Es ist ein Zeichen fehlenden Verantwortungsbewusstseins und fehlender Moral, wenn 77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges mit aller juristischen und diplomatischen Wucht gegen Italien vorgegangen wird, um dessen unabhängige, die Menschenrechte und die Menschenwürde der NS-Opfer wahrende Justiz zu brüskieren. Vor diesem Hintergrund ist es ein Alarmsignal, wenn gleichzeitig ein »Sondervermögen« von 100 Milliarden Euro Verwendung für Deutschlands Aufrüstung und damit für neue Kriege finden soll. Das Geld ist da – der Verwendungszweck ist falsch.
Wir dokumentieren hier einen Beitrag des Arbeitskreises Distomo »Machtpolitik statt Menschenrechte – UNO-Gericht als Drohkulisse. Erklärung zu der Rücknahme der Klage Deutschlands gegen Italien in Den Haag« vom 10. Mai. Der Arbeitskreis bittet um Unterstützer*innen für diese Erklärung, die gerne weitergegeben werden kann. Bei Interesse bitte ein Mail an: ak-distomo@nadir.org. Die Liste der Unterstützer*innen wird auf der Webseite des Arbeitskreises regelmäßig aktualisiert: nadir.org/nadir/initiativ/ak-distomo
Bisherige Unterstützer*innen sind unter anderem Giorgis Fotopoulos, Patric Seibel, Achim Rollhäuser, Corry Guttstadt, Ursula Weiher und die VVN-BdA-Bundesvereinigung
Aufgrund des Gesetzes vom 1. Mai wurde eine Entscheidung des Vollstreckungsgerichts in Rom bis Ende September 2022 vertagt.