Kostbare Solidarität

geschrieben von Alice Czyborra und Silvia Gingold

1. Juli 2022

Siegmund Gingold, jüngster Bruder Peter Gingolds, wird am 11. Juli 100 Jahre alt

Er ist elf Jahre alt, als die in Frankfurt am Main lebende jüdische Familie Gingold 1933 beschließt, vor den Nazis nach Frankreich zu fliehen. Am 11. Juli wird er einhundert Jahre alt.

Als die Nazis 1940 Frankreich besetzen, wird Siegmund, er heißt nun Simon, Mitglied der Jeunes communistes, der Kommunistischen Jugend, was ihm mehrere Monate im Gefängnis »Santé« einbringt: »Einige Stunden vor meiner Verhaftung treffe ich in unserer Straße einen Inspektor in Zivil. Der fragt mich nach einem gewissen Monsieur Simon, und ich wittere die Gefahr. Schleunigst begebe ich mich in unsere Wohnung, um das Material verschwinden zu lassen, das bei uns gelagert ist. Die Inspektoren durchwühlen die ganze Wohnung und finden nichts, außer auf dem Dachboden. Meine Brüder hatten dort nämlich eine Schneiderpuppe aus Sperrholz abgelegt, die Hitler mit offenem Maul darstellte und auf dem Fest der L’Humanité als Zielscheibe auf dem Stand für Stoffballwerfen gedient hatte. Das ist das einzige Beweisstück, das sie entdecken, dennoch nehmen sie mich mit auf die Präfektur …« So Siegmunds Schilderungen in seinen »Erinnerungen eines Unerwünschten«.

Anschluss an die Résistance

Nach Monaten der Haft wieder in Freiheit verwandelt er sich in François und schließt sich, wie schon seine Geschwister Leo, David, Peter und Fanny, der Résistance an. »Die meisten Mitglieder meiner Familie engagierten sich in der Résistance. Dies und die Unterstützung unserer nichtjüdischen Freunde ermöglichte es uns, in dieser tragischen Periode zu überleben und der Deportation und der Ausrottung durch das Hitlerregime zu entrinnen. Nur deshalb kann ich heute Zeugnis ablegen«, schreibt Siegmund im Vorwort seiner Erinnerungen.

Siegmund Gingold: Jude, Kommunist und Widerstandskämpfer – Erinnerungen eines Unerwünschten. Trafo, 2005, 163 Seiten, 15,80 Euro

Siegmund Gingold: Jude, Kommunist und Widerstandskämpfer – Erinnerungen eines Unerwünschten. Trafo, 2005, 163 Seiten, 15,80 Euro

Bewegend schildert Siegmund die Risiken und Gefahren, denen die Familie Gingold im Widerstand gegen den Terror der Nazis ausgesetzt war. Seine Zeit im Gefängnis, das Bangen bei jeder Kontrolle der falschen Papiere durch die Gendarmen, die spektakuläre Flucht seines Bruders Peter aus den Fängen der Gestapo und die tragischen Verhaftungen seines Bruders Leo und seiner Schwester Dora, die nach Auschwitz deportiert und in den Gaskammern ermordet wurden. Diese einschneidende Tragödie lässt ihn auch nach dem Krieg nicht ruhen.

So engagiert er sich in der Protestbewegung gegen die IG Farben in Abwicklung. Die IG Farben lieferte den Nazis das Zyklon B und die technischen Verfahren für seine Verwendung in den Gaskammern zur Vernichtung von Millionen Menschen. In Form einer Aktiengesellschaft in Liquidation existierte der Konzern weiter und weigerte sich, die überlebenden Zwangsarbeiter zu entschädigen, die ausgebeutet und wie Sklaven behandelt worden waren. Jedes Jahr fanden Aktionärsversammlungen statt, um die Dividenden zu zählen.

In Paris organisiert Siegmund Proteste vor der deutschen Botschaft, sammelt Unterschriften für eine Petition an Kanzler Helmut Kohl und prangert in öffentlichen Aktionen die IG Farben an, die zur Komplizin der Massenvernichtung des Naziregimes wurde und auch seine Geschwister Dora und Leo auf dem Gewissen hat. 1997 und 1999 kommt Siegmund zusammen mit seiner Frau Hélène und seinem Bruder David aus Paris nach Frankfurt am Main, um vor dem Sitz der IG Farben am Tag der Aktionärsversammlung zu protestieren.

Für Leben ohne Rassismus und Antisemitismus

Gemeinsam mit deutschen Antifaschisten protestieren Siegmund Gingold und seine Frau gegen die Aktionärskonferenz der IG Farben i. A. in Frankfurt am Main. Foto aus dem u. g. Buchband

Gemeinsam mit deutschen Antifaschisten protestieren Siegmund Gingold und seine Frau gegen die Aktionärskonferenz der IG Farben i. A. in Frankfurt am Main. Foto aus dem u. g. Buchband

Sein ganzes Leben setzt sich Siegmund für eine humane und gerechte Welt ein, für ein Leben in Würde ohne Rassismus und Antisemitismus, gegen Faschismus und Krieg. Dafür riskierten er und seine Familie ihr Leben. In den schweren Zeiten des Exils erfuhren sie Hilfe von Menschen in Frank-reich, die für illegale Quartiere und Lebensmittel sorgten, Pässe fälschten, die Kinder versteckten, um sie vor der Deportation in Sicherheit zu bringen. Siegmund kann es nicht hoch genug schätzen, was es heißt, in der Résistance organisiert, in einem Netzwerk der Solidarität eingebettet gewesen zu sein. Dieser Solidarität verdankt er sein Überleben. Diese so erfahrene kostbare Solidarität lebt er selbst.

Die Autorinnen Alice Czyborra und Silvia Gingold sind Cousinen von Siegmund Gingold