Zweifelhaftes Relief
1. Juli 2022
Antisemitisches Schandmal an der Wittenberger Marienkirche darf bleiben
Mitte Juni lehnte der Bundesgerichtshof in Karlsruhe die Klage auf Entfernung des antisemitischen Schmähbildes an der Wittenberger Marienkirche ab. Die Kammer wies die Klage gegen das vorinstanzliche Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg mit der Begründung ab, die Kirche habe sich mit einer Erklärung ausreichend distanziert.
Seit dem Jahr 1290 befindet sich an der Südfassade der Wittenberger Stadtkirche in vier Metern Höhe ein zweifelhaftes Relief. Es zeigt eine Sau, an deren Zitzen zwei Menschen saugen, die durch ihre Spitzhüte als Juden erkennbar sind. Ein Rabbiner hebt den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After. Wie man weiß, gelten Schweine im Judentum als unrein. Dieses Relief trägt den unschönen Namen »Judensau«, die Kirche als solche hat große historische Bedeutung, predigte in ihr doch einst der Reformator Martin Luther.
Dietrich Düllmann, nach eigenen Angaben 1978 zum Judentum konvertiert, wohnt in Bonn und nicht in Wittenberg. Er verlangte von der Kirche die Entfernung der »Judensau«, da er sich beleidigt fühlte. »Sie verstößt gegen das Grundgesetz, gegen Artikel 1, gegen die Würde des Menschen«, sagt er, wo es heißt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Dietrich Düllmann verweist auf die besondere, aus dem Nationalsozialismus resultierende, historische Verantwortung der Deutschen gegenüber Juden: »Die Geschichte hat es immer und immer wieder bewiesen, dass es bei einer Beleidigung nicht geblieben ist.« Das beleidigende Relief solle in ein Museum, wo man den Kontext besser erklären und auf die Inschrift an der »Judensau« Bezug nehmen könne. »Rabini Schem Ha Mphoras« lautet diese – ein hebräischer Verweis auf den unaussprechlichen Namen Gottes bei den Juden. Die Inschrift wurde 1570 in Anlehnung an zwei von Martin Luther 1543 veröffentlichte antijudaistische Schriften angebracht. Luther (1483–1546) wirkte in Wittenberg und hetzte vor allem in seinem Spätwerk gegen Juden.
Bereits 1988, fünfzig Jahre nach den Novemberpogromen, hat die Kirchengemeinde, in Absprache mit der Jüdischen Gemeinde, ein Mahnmal zur »Judensau« gestellt. Damit und darin distanziert sie sich vom antisemitischen Inhalt und bezeichnet sie als »Schmähplastik«. Der Tafeltext ist auf Deutsch und auf Englisch zu lesen. Zudem wird auf Judenverfolgungen im 15. und 16. Jahrhundert verwiesen, ebenso auf Luthers antijudaistische Schriften. »Gottes eigentlicher Name / der geschmähte Schem Ha Mphoras / den die Juden vor den Christen / fast unsagbar heilig hielten / starb in sechs Millionen Juden / unter einem Kreuzeszeichen.« Das umstrittene Relief sollte an der Kirche verbleiben. Dieses schwierige Erbe sei ebenso ein Dokument der Zeitgeschichte. In der jüngsten Vergangenheit wurden Denkmäler, Gedenktafeln, Straßennamen und Ähnliches zunehmend kritisch hinterfragt und mancherorts entfernt. Mit der Entfernung der »Judensau« würde zweifellos Geschichte getilgt werden, hier haben die RichterInnen ein (vor-)letztes Wort gesprochen. Laut Wikipedia sind in Europa 48 solcher Darstellungen bekannt, in Mitteleuropa sind sie noch an etwa 30 Orten zu finden. Es braucht jedenfalls einen kritischen antifaschistischen Blick und einen jeweils individuellen Umgang damit.