Entwicklungsbegleiter

geschrieben von Kristin Caspary

4. September 2022

Vor 25 Jahren starb der Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski

Jürgen Kuczynski hat nicht nur zu Zeiten des »kurzen zwanzigsten Jahrhunderts«, wie es ein britischer Freund einst ausdrückte, gelebt, sondern ganz aktiv an ihm mitgewirkt. Davon zeugen nicht nur abertausende Publikationen zu allen möglichen Themen von schöner Literatur bis zu Wirtschaftsgeschichte (seiner Lebensaufgabe), sondern vor allem sein stets aufrechtes politisches Engagement.

Linkes Großbürgertum

Das Schreiben über Jürgen Kuczynski ist mit der Schwierigkeit verbunden zu entscheiden, welche Aspekte seines Lebens man erwähnen möchte und für welche es an dieser Stelle keinen Platz gibt. Es gibt also nicht zu wenig Material, sondern es ist schier unmöglich, aus der Fülle an Ereignissen eine Auswahl zu treffen, die den Rahmen nicht sprengt. Vieles wurde über ihn in unserem Magazin schon geschrieben; zu seinem 25. Todestag am 6. August möchten wir erneut an ihn erinnern und einen kurzen Abriss eines langen Lebens wagen.  Foto: Screenshot aus der Doku »Die Sammlung Jürgen Kuczynski. Ein Film von Thomas Grimm«. Herausgeberin: Zentral- und Landesibliothek Berlin

Das Schreiben über Jürgen Kuczynski ist mit der Schwierigkeit verbunden zu entscheiden, welche Aspekte seines Lebens man erwähnen möchte und für welche es an dieser Stelle keinen Platz gibt. Es gibt also nicht zu wenig Material, sondern es ist schier unmöglich, aus der Fülle an Ereignissen eine Auswahl zu treffen, die den Rahmen nicht sprengt. Vieles wurde über ihn in unserem Magazin schon geschrieben; zu seinem 25. Todestag am 6. August möchten wir erneut an ihn erinnern und einen kurzen Abriss eines langen Lebens wagen.
Foto: Screenshot aus der Doku »Die Sammlung Jürgen Kuczynski. Ein Film von Thomas Grimm«. Herausgeberin: Zentral- und Landesibliothek Berlin

Jürgen Kuczynski wurde 1904 in in Elberfeld (heute zu Wuppertal gehörend) geboren, hinein in eine jüdische Familie, die sich schon lange vor seiner Geburt dem linken Großbürgertum zugehörig fühlte. 1930 trat er in die KPD ein, bereute später, sich nicht an seinen Schwestern ein Beispiel genommen und diesen Schritt früher gewagt zu haben. Nachdem die Nazis 1933 an die Macht kamen, entschied er sich zunächst gegen das Exil und war im Widerstand aktiv, bis er aufgrund der faschistischen Verfolgung gezwungen war, nach Großbritannien zu emigrieren. Dort setzte er seine antifaschistische Arbeit fort und vermittelte zwischen den ebenfalls nach Großbritannien emigrierten Genoss_innen und der Parteileitung in Paris. Nach Kriegsausbruch wurde er, wie viele andere deutsche Emigranten, die sich auf britischem Boden befanden, interniert, kam aber bald durch die Intervention amerikanischer Prominenter wieder auf freien Fuß. Ihm gelang es 1942, den als Atomspion bekannt gewordenen Klaus Fuchs und damit kriegswichtige Informationen für die sowjetische Seite zu gewinnen. Ab 1944 erstellte er für die US-Amerikaner Analysen zu den wirtschaftlichen Folgen der alliierten Bombenangriffe und kehrte mit diesen 1945 nach Deutschland als Sachverständiger zurück. In den sechziger Jahren wurde er ob dieser Erfahrungen als Gutachter zum Frankfurter Auschwitzprozess geladen, der unter der Regie des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer eine Zäsur in der juristischen Aufarbeitung faschistischer Verbrechen darstellte. Die »Strafsache gegen Mulka u. a.« war mehr als nur ein Strafprozess wegen Mordes bzw. wegen Beihilfe zum Mord, sondern sollte auch dazu dienen, der bundesdeutschen Öffentlichkeit ihre zum Teil erst 15 Jahre zurückliegenden Verbrechen in all ihrer Grausamkeit vor Augen zu führen.

Kuczynskis Gutachten sollte die enge Verknüpfung von Wirtschaft und Politik zu Zeiten des nationalsozialistischen Regimes am Beispiel der IG Farben in Auschwitz belegen, die in der Nachkriegszeit immer wieder geleugnet wurde. Sein Gutachten wurde aus fadenscheinigen Gründen abgelehnt, nachdem es verschiedene Anträge gab, ihn wegen Befangenheit aufgrund seiner kommunistischen Überzeugung als Gutachter abzuberufen.

Jürgen Kuczynski: Kurze Bilanz eines langen Lebens: Große Fehler und kleine Nützlichkeiten, Elefanten Press, 1991

Jürgen Kuczynski: Kurze Bilanz eines langen Lebens: Große
Fehler und kleine Nützlichkeiten, Elefanten Press, 1991

1946 bis 1956 leitete er den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität. 1955 wurde er Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW). 1968 emeritiert, wandte er sich noch immer nicht von wissenschaftlicher und politischer Tätigkeit ab und publizierte weiter und viel. 1983 erschien der Band »Dialog mit meinem Urenkel«, welcher ein Kassenschlager in der DDR wurde, auch aufgrund seiner, für die damalige Zeit sehr kritischen Analyse der DDR. Jürgen Kuczynski blieb bis an sein Lebensende überzeugter Marxist, der Zusammenbruch des sowjetischen Blocks ließ ihn an dieser Haltung nie zweifeln. Der Grund dafür findet sich in seinem Verständnis des Sozialismus. Die DDR betrachtete er, anders als von staatlicher Seite propagiert, nie als entwickelten, sondern als sich entwickelnden sozialistischen Staat. Dieses Verständnis räumt die Möglichkeit der Kritik an den in der DDR herrschenden Verhältnissen ein, genauso wie die Möglichkeit zur Besserung. Kritik übte er jedoch nicht nur auf wirtschaftswissenschaftlicher Ebene, sondern ebenso am Verhältnis von SED und Intelligenz in der DDR. Zeit seines Lebens war er in Kontakt mit zahlreichen Künstler_innen und setzte sich für viele von ihnen ein. Die Hoffnung auf einen kommenden Sozialismus gab er nie auf, auch wenn er diesen in »recht ferne Zukunft gerückt« sah. Seit 2015 trägt eine kleine Parkanlage in Berlin-Pankow seinen Namen, zu verdanken der Arbeit beharrlicher Mitglieder der VVN-BdA, alten Schüler_innen, Kolleg_innen, Freund_innen.

Klarer, beißender Kritiker

Ansonsten ist die Erinnerung an den berühmtesten (Wirtschafts-)Wissenschaftler der DDR, der mehrmals für den Nobelpreis nominiert wurde, dem allgemeinen Vergessen der Nachwendejahre anheim gefallen. Als Grund der Befangenheit während des Auschwitzprozesses wurde »die wissenschaftliche Tätigkeit in der Deutschen Demokratischen Republik, deren zumindest antifaschistischer Charakter allgemeinkundig ist«, so formulierte es der Nebenklagevertreter Kaul, angegeben. Ähnliche Begründung kann wohl für ebenjenes Vergessen heute angenommen werden. Diejenigen unter uns, die Jürgen Kuczynski noch kennenlernen konnten, erinnern sich an ihn als einen auch im Alter noch klaren, beißenden Kritiker der deutschen Verhältnisse, dessen antifaschistisches Engagement uns allen nur zum Vorbild dienen und daran erinnern sollte, niemals aufzugeben.