Eskalation der Schoa

geschrieben von Janka Kluge

4. September 2022

»Aktion Reinhardt«: Plan zur systematischen Ermordung von Jüdinnen und Juden

Anfang 1942 trafen sich in einer Villa am Rande Berlins führende Vertreter des NS-Regimes und der SS, um über den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung zu sprechen. Den Vorsitz des Treffens, das unter dem Namen »Wannseekonferenz« bekannt wurde, hatte Reinhard Heydrich. Dabei wurde der zeitliche Ablauf der Deportationen festgelegt und bestimmt, dass die Koordination in den Händen des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) liegen soll und damit bei Heydrich. Bereits Ende Juli 1941 hatte er von Hermann Göring den Auftrag zur Organisierung des Massenmords bekommen.

Heydrich starb nach einem von Soldaten der tschechischen Exilarmee verübten Attentat am 4. Juni 1942 in Prag. Um ihn zu ehren, wurde die geplante Eskalation der Schoa nach ihm benannt, als »Aktion Reinhardt«. Lange war allerdings unter Historikern umstritten, ob der Massenmord nach ihm benannt sei, schließlich schrieb sich Heydrichs Vorname ohne den Buchstaben T. Nachdem aber Dokumente gefunden wurden, in denen Göring den Namen von ihm auch so schrieb, waren die Zweifel weitgehend passé.

Auf der Wannseekonferenz forderte der NS-Staatssekretär Josef Bühler, dass die Morde im Generalgouvernement1 beginnen sollen, weil in diesem Teil des besetzten Polens keine Transportprobleme entstünden. Mit der Organisation war Otto -Globocnik, SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin des Generalgouvernements, betraut. Er suchte als ersten Ort für den Mord das ehemalige Arbeitslager Belzec aus. Dieses war zwischen Mai und Oktober 1940 ein Lager für jüdische Zwangsarbeiter. Es lag – für die Mordabsichten der Nazis strategisch vorteilhaft – an der Zugstrecke zwischen Lemberg und Lubin und war auch von Warschau aus gut zu erreichen. Kurz Zeit später wurden dann auch Sobibor und Treblinka als Vernichtungslager in Betrieb genommen. Bis heute ist nicht genau erforscht, wie viele Menschen in den drei Mordstätten umgebracht wurden. Nach Schätzungen von Historikern waren es zwischen 1,6 und 1,8 Millionen jüdische Menschen sowie mindestens 50.000 Sinti und Roma.

An die Opfer der »Aktion Reinhardt« wird auch in der KZ-Gedenkstätte Treblinka mit einem Mahnmal erinnert. Foto: Gedenkstätte KZ Bisingen

An die Opfer der »Aktion Reinhardt« wird auch in der KZ-Gedenkstätte Treblinka mit einem Mahnmal erinnert. Foto: Gedenkstätte KZ Bisingen

Im Gegensatz zu Auschwitz, in dem die Vernichtung der europäischen Juden länger dauerte, gab es in diesen drei Lagern keinen »Arbeits«bereich. Alle, die in die Lager deportiert wurden, wurden sofort ermordet. Der Historiker Nikolaus Wachmann schreibt in seinem Buch »KL«: »Ein Zug nach dem anderen brachte Hunderttausende Juden in Globocniks Todeslager. Wenige von ihnen überlebten mehr als ein paar Stunden; kaum hatte man sie in die Gaskammern gepfercht, liefen starke Motoren an und pumpten Kohlenmonoxid hinein« (S. 344 f.). Der Ablauf erinnert an die Nazimorde der Menschen mit Behinderungen. Fast das komplette Führungspersonal unter Globocnik bestand aus Männern, die die »Aktion T4«, den Mord an den behinderten Menschen in Deutschland, organisierten. An der Spitze stand Christian Wirth. Er war Kommandant der drei »Aktion-Reinhardt-Lager«.

Auschwitz war im Gegensatz zu den drei Lagern nicht nur auf die Vernichtung von Menschen angelegt. Es gab dort einen riesigen »Arbeits«komplex, in dem die Inhaftierten für deutsche Konzerne unter unvorstellbaren Bedingungen schuften mussten. In den drei Lagern ging es ausschließlich um die Vernichtung der Menschen – völlig egal welchen Alters, Geschlechts oder gesundheitlichen Zustands. Und es gab einen weiteren Unterschied: In den drei Lagern wurden die jüdischen Menschen sowie Sinti und Roma aus dem Generalgouvernement ermordet, in -Auschwitz die aus West- und Südeuropa.

Obwohl Globocnik versuchte, die »Aktion Reinhardt« geheim zu halten, sind Informationen über den Massenmord an die Öffentlichkeit gelangt. Immer wieder konnten jüdische Männer, die dazu bestimmt wurden, die Leichen zu verbrennen, fliehen. Sie versuchten über die Geschehnisse zu informieren, fanden aber keinen Glauben. Für die Deportationszüge wurden polnische Zugführer eingesetzt. Einige von ihnen hatten Kontakt zum polnischen Widerstand und gaben ihr Wissen weiter. Der Historiker Stephan Lehnstaedt schreibt im Buch »Der Kern des Holocaust«: »In den Ghettos war das Wissen über den Holocaust und die Aktion Reinhardt recht umfangreich. Die grausamen Nachrichten verbreiteten sich erstaunlich schnell und waren relativ detailliert« (S. 123). Als es keine Zweifel am Wahrheitsgehalt der Informationen gab, entschloss sich der Judenrat des Warschauer Ghettos die polnische Exilregierung in London zu informieren. Am 24. November 1942 informierte diese per Erklärung die Weltöffentlichkeit. »Vor den Augen der ganzen Welt wurden während des Sommers 1942 300.000 Warschauer Juden und mindestens 1.000.000 Juden vom flachen Lande, aus dem sogenannten Generalgouvernement, nach Treblinka deportiert, wo sie alle vom Säugling bis zu den Greisen, durch Ersticken in Dampfkammern ermordet wurden« (Lehnstaedt, S. 126).

Im Oktober 1942 befahl Heinrich Himmler eine andere Vorgehensweise. Künftig sollten die arbeitsfähigen Juden in kriegswichtigen Unternehmen bis zu ihrer Entkräftung arbeiten. Damit wurden die drei Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka überflüssig. Nachdem die Holzbaracken und Zäune abgebaut waren, ließ die SS Bäume pflanzen. Nichts sollte an den Massenmord erinnern.

1 Als Generalgouvernement oder Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete werden die Teile der ehemaligen Zweiten Polnischen Republik bezeichnet, die während des Zweiten Weltkrieges vom Deutschen Reich militärisch besetzt, aber nicht unmittelbar durch Annexion in Nazideutschland eingegliedert wurden.