Versteckspiel

geschrieben von Lucas Kannenberg und Emma Sammet

4. September 2022

Ungewöhnliche Wege des Überlebens im NS

Der Begriff »Mimikry« bezeichnet in der Biologie die Fähigkeit bestimmter Tiere, sich zu schützen, indem sie andere Tiere imitieren. In der Filmbiografie »Der Passfälscher« von Maggie Peren über den jüdischen Grafiker Cioma Schönhaus (gespielt von Louis Hofmann) wird Mimikry zum zentralen Handlungsmotiv: Anstatt sich nach der Deportation seiner Eltern 1942 in deren geräumiger Wohnung zu isolieren, sucht der 20-Jährige sein Versteck mitten im Leben Berlins.

Gemeinsam mit seinem engen Freund Det (Jonathan Berlin) tritt Cioma die Flucht nach vorne an. Die beiden bewegen sich ganz offen durch die Hauptstadt, besuchen Bars, Restaurants und Tanzlokale und geben sich dabei als Soldaten oder Marineoffiziere aus. Seinen Lebensunterhalt in Form von Essensmarken verdient sich der handwerklich talentierte Cioma, indem er für den Anwalt Franz Kaufmann (Marc Limpach) Ausweispapiere für Personen fälscht, die aus Deutschland fliehen wollen. Dass ihn der Anwalt bittet, immer eine Krawatte bei sich zu tragen, um sich damit notfalls erhängen zu können, scheint Cioma nicht zu beunruhigen. Überhaupt lacht und tanzt sich Cioma durch einen großen Teil des Films, was im scharfen Widerspruch zur Zeit und seiner prekären Lebenssituation steht. Mit dem dadurch bei einigen Zuschauer:innen ausgelösten Unbehagen spielt der Film wiederum durch seine Ruhe.

»Der Passfälscher«, Deutschland/Luxemburg 2022, Regie: Maggie Peren, Kinostart: 13.10.2022 Foto: Cioma Schönhaus (rechts) mit seinem Freund Det als Marineoffiziere verkleidet.

»Der Passfälscher«, Deutschland/Luxemburg 2022, Regie: Maggie Peren, Kinostart: 13.10.2022
Foto: Cioma Schönhaus (rechts) mit seinem Freund Det als Marineoffiziere verkleidet.

Inmitten des eigentlich riskanten Versteckspiels lernt Cioma schließlich »Gerda« (Luna Wedler) kennen. Er verliebt sich Hals über Kopf in die Frau, die selbst eine Meisterin der Mimikry ist und ihren wahren Namen bis zuletzt geheim hält. Doch Fälscheralltag, Versteckspiel und Liebe sind fragiler, als die Frohnatur Cioma vermuten lässt. Die Ermittlungen der Gestapo schreiten voran und die Protagonist:innen geraten zunehmend in Gefahr …

Das historische Filmdrama mit einer Länge von 116 Minuten liefert im Kern eine Auseinandersetzung mit Identität und Beziehung: Inmitten des Zweiten Weltkrieges entscheiden Identitäten über Macht oder Ohnmacht. Alle Beziehungen werden zu potenziellen Risiken. Es wird an vielen Stellen dargestellt und offen verhandelt, wer welche Möglichkeiten hat, wer von wem abhängig ist und welchen Nutzen bestimmte Kontakte bringen. Deutlich wird dies im Restaurant, als beispielsweise ein SS-Mitglied noch mitten im Krieg Schokotörtchen bekommt. Oder als beim Tanzen die jeweils höherrangigen Soldaten die vorherigen Tanzpartner ablösen.

Alle Beziehungen zwischen den Protagonist:innen sind zudem auch ökonomisch. Insbesondere Essensmarken sind eine begehrte Währung und werden manchmal sogar zur Voraussetzung für romantische Begegnungen. Klar wird jedoch gleichfalls, dass die Rollen wechseln können: Wer zunächst die eine Person ausgenommen hat, ist später eventuell umgekehrt von deren Stillschweigen abhängig. Und im Nationalsozialismus bedeutet das: Das Leben ist davon abhängig. Eine besondere Beziehung ist dabei die von Cioma und Det. Diese teilen auch ohne Tausch und harmonieren als Gegensätze.

Hervorzuheben ist in dieser Hinsicht auch die Bedeutung der Fälschungen von Cioma. Er verdient dadurch seinen Lebensunterhalt – gleichzeitig rettet er mit dieser Tätigkeit hunderte Menschen. Die Motive dafür – und die Motive anderer für ihre Unterstützungsleistungen – werden im Film selbst in Frage gestellt. Dies kulminiert in der Feststellung: »Letztlich ist es ja auch egal, wieso Leute Gutes tun.« Insofern sind alle Charaktere im Film mehrdimensional: Alle tun Gutes, aber wie es scheint oft aus Eigennutz. Erst auf den zweiten Blick wird (teilweise) eine weitere (moralische) Motivation deutlich.

Über den Film hinweg begleitet man die Protagonist:innen dabei, ihre eigenen Rollen zu finden oder besser: den Rollen zu entfliehen, die ihnen von außen auferlegt werden. Diese Prozesse finden sich sowohl im Fälschen der Pässe als auch im Tragen fremder Uniformen wieder. Cioma wirkt inmitten dieser Auseinandersetzungen fast verspielt. Er probiert sich aus, schlüpft in verschiedene Rollen und stellt alles in Frage.

In Teilen wirkt der Film damit aus der Zeit gefallen. Die Leichtsinnigkeit von Cioma mischt sich mit der ungewöhnlichen und unerwarteten Ruhe auf den Straßen. Erst nach über einer Stunde Spielzeit warnen entfernt heulende Sirenen vor einem Luftangriff. Die Schicksale anderer Personen, wie der Eltern, Freund:innen und Kolleg:innen wirken nebensächlich. Doch auch wenn das Einzelschicksal von Cioma sich weit entfernt von der allgemeinen Situation von Jüdinnen und Juden im Winter 1942 (und unseren heutigen Erwartungen an diese Zeit) abspielt, so handelt es sich doch um eine wahre Begebenheit: In dem Film geht es schließlich um die unglaubliche, aber wahre Lebensgeschichte von Cioma Schönhaus, der seinen eigenen Umgang mit den grausamen Umständen sucht und findet.