Verwobene Geschichte

geschrieben von Blake Smith

4. September 2022

Antisemitismus in Indonesien: Ein Exkurs aus Anlass jüngster Ereignisse auf der documenta

Der Auslöser dafür, dass Antisemitismus in Indonesien Thema in westlichen Medien wurde, war die Kontroverse um ein Banner, das die indonesische Künstlergruppe Taring Padi auf der documenta im Juni 2022 in Kassel präsentierte. Es enthält u. a. Bilder mit üblen Ressentiments gegenüber Juden und israelischen Sicherheitsbeamten, die Naziembleme und Schweinsköpfe tragen. Die Auseinandersetzung gewann durch Reaktionen der documenta-Organisatoren, deutscher Medien und Regierungsvertreter zusätzlich an Fahrt.

Das Transparent mit dem Titel »Peopleʼs Justice« war nicht direkt gegen Juden oder Israel gerichtet. Es scheint vielmehr antisemitische Bilder als Teil einer umfassenderen Kritik am indonesischen Regime und am Zustand internationaler Politik, einschließlich der Israels, verwendet zu haben. Die Feststellung dieser Tatsache legitimiert oder entschuldigt natürlich nicht solche Bilder. Die Verwendung antisemitischer Stereotype, um politische Argumente vorzubringen, die nicht vordergründig mit Juden in Verbindung stehen oder an sie gerichtet sind, ist auch in der westlichen Geschichte bekannt – man denke nur an die Verwendung antisemitischer Stereo-type in der »Kapitalismuskritik« sowohl von links als auch von rechts. Durch die gesamte Neuzeit zieht sich ein Klima antijüdischer Stimmungen.

Unterschiedliche Interpretationen möglich

Da Bilder notwendigerweise anders interpretiert werden, wenn sie in verschiedenen geografischen, kulturellen und politischen Kontexten zirkulieren, müssen die Ereignisse in Kassel innerhalb eines deutschen bzw. westlichen Horizonts verstanden werden. Ihre Bedeutung kann nicht einfach auf ihre ursprüngliche Intention oder die heutigen Aussagen von Taring Padi zurückgeführt werden, die aufgrund der kulturellen Unterschiede zwischen dem Ausstellungsort und dem Ort der Entstehung als Gegenstand unserer Bedenken abgetan werden. Ein beleidigendes und beunruhigendes Bild kann bedrohlich werden, wenn es sich in einem neuen Raum bewegt. Mit diesen Einschränkungen erscheint es sinnvoll, den historischen Kontext des indonesischen Antisemitismusdiskurses zu betrachten, nicht zuletzt, weil dessen Betrachtung uns zeigt, dass der antisemitische Diskurs seit langem ein global zirkulierendes Phänomen mit vielfältigen politischen Funktionen ist. Angesichts dessen sollten diejenigen, die sich gegen Antisemitismus und Hass auf Minderheiten engagieren, wachsam bleiben.

Das Massaker von Batavia (heute Jakarta) war ein von der Kolonialverwaltung angezetteltes Pogrom gegen den chinesischen Bevölkerungsteil im Jahr 1740. Rund 10.000 Menschen fielen dem Morden zum Opfer.

Das Massaker von Batavia (heute Jakarta) war ein von der Kolonialverwaltung angezetteltes Pogrom gegen den chinesischen Bevölkerungsteil im Jahr 1740. Rund 10.000 Menschen fielen dem Morden zum Opfer.

Die Folgen des antisemitischen Diskurses in Indonesien sind nicht nur symbolischer Natur, sondern stehen im Zusammenhang mit materieller und alltäglicher Diskriminierung und Gewalt gegen die winzige jüdische Minderheit des Landes.1 Im weiteren Sinne sind sie auch mit dem Antisemitismus in der gesamten muslimischen Welt und mit der Geschichte des Antisemitismus in Europa verwoben, der über die niederländische Kolonialherrschaft antijüdische Ressentiments in die politische Kultur Indonesiens exportiert hat. Schließlich stellen diese Diskurse nicht nur eine Bedrohung für Juden, sondern auch für andere Minderheiten in Indonesien dar, vor allem für die chinesische Community, die oft mit den gleichen Ressentiments angefeindet werden.

Antisemitische Bilder transformiert

Im 18. und 19. Jahrhundert brachten anscheinend niederländische Kolonialbeamte antisemitische Denk- und Sprachfiguren nach Indonesien, und zwar im Rahmen ihres Diskurses über die dortige chinesische Minderheit, die sie oft wegen angeblicher Ähnlichkeiten mit den Juden Europas verunglimpften. Beiden Gruppen wurde unterstellt, intrigant und gierig zu sein und sich nicht um das Wohlergehen ihres »Gastlandes« zu kümmern. In beiden Gruppen, auf die diese Unterstellungen abzielten, gab es Personen, die eine wichtige wirtschaftliche Rolle im Handel und im Finanzwesen spielten. Beide Gruppen dienten als nützliche Sündenböcke für die Ressentiments anderer Teile der Gesellschaft, die mittels der antisemitischen beziehungsweise antichinesischen Figuren manipuliert werden konnten.

Im 20. Jahrhundert begannen südostasiatische Nationalisten in ihrem Widerstand gegen den europäischen Kolonialismus ebenfalls, solche Vergleiche zwischen Chinesen und Juden anzustellen.2 Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs war es für indonesische Nationalisten nicht ungewöhnlich, chinesische Händler verächtlich als »Juden« zu bezeichnen. Die in der Sprache des Antisemitismus formulierten Angriffe auf die Überseechinesen in Indonesien und anderswo in Südostasien hielten auch nach der Entkolonialisierung an, mit mörderischen Folgen.3

Es bedarf wohl keiner Erinnerung, dass der Widerstand gegen Antisemitismus nicht nur für den Schutz von Juden in Ländern mit einer besonders schmerzhaften Geschichte antijüdischer Diskriminierung und Gewalt von Bedeutung und unser aller Verantwortung ist. Diese jüngsten Ereignisse zeigen jedoch einmal mehr, dass der Antisemitismus ein komplexes, globales Phänomen ist. Weltweit werden antisemitische Ressentiments herangezogen, um politische Maßnahmen zu mobilisieren, die sich gegen andere marginale und schwache Gruppen richten.

1 Wie in einem Bericht der Times of Israel über die einzige Synagoge des Landes berichtet wurde, www.timesofisrael.com/indonesias-last-synagogue-an-intended-heritage-site-destroyed/, 4. Oktober 2013, zuletzt eingesehen am 17. August 2022

2 Der thailändische Monarch Watchirawut verfasste z. B. 1914 ein Pamphlet »The Jews of the Orient«, in dem er ethnische Chinesen in der gesamten Region als gierig, nicht anpassungsfähig und gefährlich angriff.

3 In den ersten Jahren der Herrschaft von Diktator Suharto (1966–1998) wurden schätzungsweise 500.000 bis drei Millionen Menschen durch die indonesische Armee und Milizen systematisch getötet. Die meisten Opfer waren Anhänger der Kommunistischen Partei und chinesischstämmige Bürger. Nach einer weiteren, kleineren Welle antichinesischer Unruhen versuchte die indonesische Regierung unter der »Neuen Ordnung« (Orde Baru) das, was sie als ihr »chinesisches Problem« (Masalah Cina) bezeichnete, durch eine Politik der Zwangsassimilation zu lösen.

Der Autor ist Stipendiat an der Uni Chicago. Sein Schwerpunkt sind die kulturellen Beziehungen zwischen Frankreich und Indien. Siehe diskus.copyriot.com/news/sie-hassen-chines-innen-weil-sie-juedisch-sind

Übersetzung: Andreas Siegmund- Schultze