Aufstieg des Faschismus
7. November 2022
»Marsch auf Rom«: Vor 100 Jahren wurde Mussolini in Italien Ministerpräsident
Am 30. Oktober 1922 endete mit der Machtergreifung der »Fascisti« der »Marsch auf Rom«. Doch nicht an der Spitze seiner Stoßtrupps, sondern im Schlafwagen zog Benito Mussolini in Rom ein und wurde vom König zum Ministerpräsidenten ernannt. Die Siegesparade der Schwarzhemden am nächsten Tag sollte demonstrieren, wo nun die wirkliche Macht lag. Dabei verfügte der »Partito Nazionale Fascista« nur über 35 Abgeordnete, gewählt auf einer Einheitsliste, mit der der liberale Ministerpräsident Giovanni Giolitti die rechte Bewegung einbinden und instrumentalisieren wollte. Doch schon im November trat das Parlament mit seiner Mehrheit von Liberalen, Konservativen und den katholischen Populari sämtliche Machtbefugnisse an Mussolini ab, der die parlamentarischen Formen und eine Koalitionsregierung mit Vertretern aller bürgerlichen Parteien zunächst beibehielt, die Macht in der »diktatorischen Demokratie« aber bei sich konzentrierte.
Den Faschismus zu definieren heiße zuallererst, seine Geschichte zu schreiben, betonte Angelo Tasca, einer seiner wichtigsten Chronisten. Mussolini, zunächst charismatischer Führer des linken Flügels der Sozialistischen Partei Italiens, gründete 1914 die »Fascio dʼazione rivoluzionaria« als linke Propagandabewegung für den Eintritt Italiens in den Weltkrieg, für »Nation und Sozialismus«. Im Krieg trommelte er in seiner von Industriellen und den Westmächten finanzierten Zeitung für den totalen, »integralen Krieg«. Millionen Soldaten wurden getötet oder verletzt, vier Millionen kehrten in ein zerrüttetes Land zurück: Mit dem Ende der Kriegswirtschaft trudelte Italien in eine Wirtschaftskrise, musste bei der Einstellung von Beamten sparen und das Heer abbauen. Nur wenige der 160.000 jungen Offiziere, geprägt durch den Krieg, fanden angesichts der zahlreichen Arbeit suchenden Akademiker die erwartete gesellschaftliche Stellung. Mussolini will sich zu ihrem Sprecher machen. »Wir Überlebenden, wir, die wir zurückgekehrt sind, erheben Anspruch auf unser Recht, Italien zu beherrschen, auf dass es sich würdig erweise, seinen Platz unter den großen Nationen einzunehmen«, verkündete er.
Am 23. März 1919 reanimierte Mussolini in Mailand seine Gruppe als »Fasci di combattimento«. Zu nationalen Syndikalisten, interventionistischen Sozialdemokraten, Futuristen kamen nun als Kern die »Arditi« hinzu, gewaltaffine Angehörige der Elitetruppen. Die Bewegung blieb zunächst weitgehend erfolglos, trotz ihrer linken Forderungen nach Republik und Frauenwahlrecht, Achtstundentag und Mindestlohn. Das Zahlungsbilanzdefizit als Folge der Kriegsschulden verschärfte sich, Infla-tion löste die Ersparnisse der Mittelschichten auf – und bei den Arbeitern eine Streikwelle aus. Die Unternehmer forderten Lohnverzicht und waren zu keinen Zugeständnissen bereit. Auf Aussperrungen reagierten die Arbeiter mit Betriebsbesetzungen, versuchten über ihre Fabrikkomitees den Produktionsprozess selbst in die Hand zu nehmen.1 Ministerpräsident Giolitti erwirkte eine Verständigung, der den Gewerkschaften einige Rechte einräumte, die Industriellen aber wollten wieder Herr im Haus sein und unterstützten Mussolinis Faschisten.
56 Prozent der Bevölkerung lebten von der meist von Großgrundbesitz geprägten Landwirtschaft. Hier setzten Gewerkschaften, Arbeitskammern und meist links regierte Gemeinden Norditaliens nach dem Krieg erhebliche Rechte durch, gewerkschaftliche Arbeitsvermittlung, Einstellungsquoten, verbindliche Tarife, hohe Kommunalsteuern auf Grundbesitz. Gegen diese starke Stellung begannen die Grundbesitzer anzurennen und suchten die Unterstützung der im Krieg gewachsenen Schicht von Kleinbauern und Pächtern, die ihren Status als sozialen Aufstieg empfanden. Gegen die Forderungen der sozialistischen Landarbeiter nach Vergesellschaftung des Bodens wurden die Kleinbesitzer »zu fanatischen Verteidigern ihrer heiligen Eigentumsrechte« und zu den »ersten Rekruten des Faschismus auf dem Land«, ihre kriegsgeschulten Söhne bildeten die »bäuerlichen Infanteristen« des »Agrarfaschismus«.2 Der Versuch der vielfach gespaltenen Arbeiterbewegung, sich mit einem Generalstreik dem Vormarsch der Faschisten entgegenzustellen, scheiterte, die Streikzentralen wurden überfallen, Streikbrecher hielten den Zugverkehr aufrecht. Aber auch die Mitgliederzahlen der sozialistischen Gewerkschaft waren Mitte 1922 von über zwei Millionen auf eine halbe Million gesunken.
Die Führer der Stoßtrupps beherrschten schließlich das flache Land sowie die Städte der Po-Ebene und drängten Mussolini zur Macht. Dessen Erfolg beruhte auf seiner Doppelstrategie als Biedermann und Brandstifter. Während seine Squadre Terror ausübten, diente sich der ehemalige Republikaner und Freidenker der Kirche und dem König als Retter der Ordnung an. Auch die Liberalen unterstützten seine Wahl im Glauben, ihn lenken zu können. »Wir haben die Macht, und wir werden sie behalten. Wir werden sie gegen jedermann verteidigen«, verkündete allerdings der Duce. 100 Jahre später warnt Paul Mason: »Die Geschichte dieser Machtergreifung sollte eine Pflichtlektüre sein, und zwar nicht nur für Antifaschisten und Demokraten.«
1 Das Gespenst des Bolschewismus ging um, aber es blieb eingesperrt in den besetzten Fabriken, die »belagerten Festungen« glichen, wie Antonio Gramsci beobachtete, einer der Führer der Turiner Betriebsrätebewegung.
2 Bewaffnet unter der Hand von der Armee und finanziert von den Agrariern überfielen die mit Lkw mobilen »Squadre« die Genossenschaften und linken Kommunalverwaltungen. Nacheinander wurden die gegen solche konzentrierten Angriffe wehrlosen linken Kommunen überfallen, die Arbeitsbörsen zerstört und verbrannt, die Funktionäre gedemütigt, verprügelt und ermordet. Konservative Richter und nationalistische Polizeipräfekten schauten wohlwollend zu, wie mit dem »roten Spuk aufgeräumt« wurde.