Etwas Selbstverständliches

7. November 2022

Buch zu geretteten Kindern von Gurs. Gespräch mit Brigitte und Gerhard Brändle

antifa: Warum befasst ihr euch mit dem Internierungslager Gurs?

Gerhard Brändle: Weil bis Ende der 1970er-Jahre niemand genau hingeschaut hat – über Leid, Not, Mangelernährung, Siechtum und Tod hinaus. Deswegen war das Narrativ in Baden und in Pforzheim, wo wir herkommen, gleich: 22. Oktober 19401 Verschleppung nach Gurs, ab Sommer 1942 Deportation in die Todesfabriken, alle, fast alle ermordet.

 antifa: Warum habt ihr euch dem Thema »Rettung« gewidmet?

Brigitte Brändle: Weil wir bei der Dokumentation der Schicksale, vor allem der Kinder in Gurs, immer wieder Überlebende fanden sowie kennenlernten und damit klar wurde, dass die Nazis ihre Vernichtungspläne nicht durchsetzen konnten. Statt alljährlich am 22. Oktober das Ritual des Erinnerns an Verfolgung, Verschleppung und Mord zu wiederholen, haben wir untersucht, wer eben nicht umgebracht wurde. Ergebnis: 417 der 563 aus Baden, der Pfalz und dem Saarland nach Gurs verschleppten Kinder wurden gerettet. Zuerst halfen die Berichte der überlebenden »Kinder«, die unsere Arbeit unterstützt haben, dann auch unsere Beziehungen zu RetterInnen bzw. deren Nachkommen. Das ging nur, weil die Menschen erst erstaunt und dann erfreut waren, dass wir die Frage nach diesem Abschnitt ihres Lebens stellten. Sie haben – wenn auch zum Teil in schmerzender Erinnerung – bereitwillig ihre Herzen sowie Dokumenten- und Fotomappen geöffnet.

 antifa: Welche Quellen habt ihr verwendet?

G.B.: Die Auswertung der Literatur, zum größten Teil in Frankreich erschienen, Kontakte zu Forschenden in Frankreich und zu Einrichtungen wie dem Archiv des jüdischen Kinderhilfswerkes OSE, zu Yad Vashem und dem Schweizerischen Bundesarchiv halfen. Die Suche in inländischen Archiven, bei Initiativen vor Ort, Stolperstein-Gruppen etc. war nur teils erfolgreich. Wir danken Ruth Fivaz-Silbermann und Dominique Rotermund. Durch sie haben viele Gerettete nicht nur ihren Namen und ihre Geschichte, sondern ein Gesicht bekommen. Die Suche nach den Retterinnen – es waren in der Mehrheit Frauen, die ihr Leben riskierten, um Leben zu retten – war schwieriger als die Suche nach den Kindern. Die Geretteten konnten uns nicht helfen, sie kannten – aus verständlichen Gründen – keine Namen oder allenfalls Decknamen. Viele der an der Rettung Beteiligten haben Jahrzehnte geschwiegen, sie haben – so ihre Sicht – etwas Selbstverständliches, eben das Notwendige getan. Die Retterinnen kamen aus allen Spektren der Zivilgesellschaft in Frankreich, hatten diverse politische oder religiöse Orientierungen, waren organisiert oder wurden von schon Engagierten um Hilfe gebeten.

 antifa: Welche Organisationen waren beteiligt ?

B.B.: Hierzulande sind das jüdische Kinderhilfswerk OSE und die protestantische Frauenorganisa-tion Cimade (Service œcuménique dʼentraide) in der Literatur genannt. Aber ohne die vielen jungen Menschen in der zionistischen Jugend und bei jüdischen Pfadfindern wäre vieles nicht möglich gewesen. Gläubige und Geistliche christlicher und jüdischer Gemeinden arbeiteten ohne Probleme zusammen, auch mit GewerkschafterInnen, SozialistInnen und der antirassistischen kommunistischen Organisation MNCR sowie den FTP. Hilfe kam zudem aus dem Ausland: von den Quäkern, den Unitariern und dem YMCA aus den USA. Personen, auch in und aus der Schweiz, organisierten Hilfssendungen und Rettungswege und sorgten für Geld. Die Rettungsnetzwerke waren eine partei- und religionsübergreifende Internationale der Solidarität. Fast ein Drittel der Retterinnen kam aus dem Ausland, waren zum Teil selbst vor den Nazis geflohen. Etliche der Kinder, die mit richtigen falschen Papieren in Familien versteckt waren, haben dafür gesorgt, dass ihre RetterInnen von Yad Vashem als »Gerechte unter den Völkern« geehrt wurden.

 antifa: Wie war das Echo auf das Buch?

G.B.: Es kamen viele Dankschreiben von Geretteten, ihren Kindern und Enkeln, Dank auch von örtlichen Gruppen, denen wir neue Erkenntnisse und Fotos zur Verfügung stellten, und viel Erstaunen darüber, dass es so viel Hilfe, Solidarität, Widerstand und Rettung gab. Die Ergebnisse werden beim Generallandesarchiv Karlsruhe in eine Datenbank aller nach Gurs Verschleppten eingearbeitet. Veranstaltungen in Freiburg, Konstanz, Mannheim und Pforzheim waren keine historischen Vorträge, sondern auch Auseinandersetzungen über die Notwendigkeit und Möglichkeiten, heute aktiv zu werden für Menschen auf der Flucht, für Kinder in Lagern an den EU-Außengrenzen.

antifa: Welche Lehren wären daraus zu ziehen?

B.B.: Dass gewaltfreier Widerstand sowie ziviler Ungehorsam erfolgreich sein können und dass im Kampf gegen alte und neue Nazis Abgrenzungen aus politischen und/oder religiösen Gründen schädlich sind. Würdigung der »Résistance civile« bedeutet, von dem zu lernen, was die KollegInnen von OSE, Cimade und andere damals schafften und wofür sie auch heute auf die Straße gehen.

Brigitte und Gerhard Brändle forschen schon seit längerem über den Widerstand gegen die Nazis in Baden. Ob es französische ZwangsarbeiterInnen waren, die ermordet wurden, ob es der gewerkschaftliche, der christliche Widerstand war, ob SpanienkämpferInnen oder andere widerständige Menschen.

Brigitte und Gerhard Brändle: Gerettete und ihre Retterinnen – Jüdische Kinder im Lager Gurs. Israelitische Religionsgemeinschaft Baden, 2021, 208 Seiten. Download (PDF): kurzelinks.de/gurs-broschuere

1 Am 22. Oktober 1940 verschleppten die Nazis auf Befehl der Gauleiter Badens und der Saarpfalz 6.500 jüdische Menschen, darunter 563 Kinder, aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in den noch nicht besetzten Teil Frankreichs. Die Vichy-Regierung ließ die neun Sonderzüge nach Oloron an den Nordrand der Pyrenäen leiten und die Betroffenen mit Lkw in das fast leere Internierungslager Gurs bringen.

Im Text verwendete Abkürzungen:

OSE: Œuvre de secours aux enfants

MNCR: Mouvement Nationale Contre le Racisme

FTP: Francs-tireurs et partisans

YMCA: Young Men’s Christian Association

Das Gespräch führte

Andrée Fischer-Marum