Für einen Brückenschlag
7. November 2022
Erinnerungs- und Gedenkkulturen im Stil einer globalen Forschungsreise
Mit ihrem eindringlichen Appell, aller Gewaltherrschaftsopfer zu gedenken, fokussiert Charlotte Wiedemann die zumeist heftigen Auseinandersetzungen darum, ob die Tragödie der Shoah in Nazideutschland singulär sei. Die Autorin wirbt mit ihrem Buch für einen Brückenschlag zwischen Gedenkkulturen. Indem sie kritisch hinterfragt: »Welcher Schmerz überhaupt zählt (…) Was steuert Empathie?« (S. 11) plädiert sie für eine Universalisierung von Erinnern, Trauer und Empathie. Wiedemann hat als Publizistin und Auslandskorrespondentin mehr als 30 Länder bereist. In ihrem Buch zeigt sie Verbindungslinien zwischen den in der jüngeren Menschheitsgeschichte stattgefundenen Massakern, Gräueltaten, Genoziden.
Die Autorin, 1954 geboren, zur ersten Nachkriegsgeneration gehörend, erfuhr das bleierne Beschweigen der NS-Zeit – »die väterliche NSDAP-Mitgliedschaft inbegriffen« (S. 12). Im Buch plädiert sie für eine neue Erinnerungskultur: »Wir müssen unsere Haltung zur deutschen Geschichte aus einer kosmopolitischen Perspektive neu begründen. (…) Ein Erinnern für eine Zukunft, die Zugehörigkeit in Diversität erlaubt und damit lebendige Gegenrede ist zum Wahn von Homogenität, Nationalismus und Aussonderung« (S. 9). Ein besonderes Augenmerk richtet Wiedemann auf die europäische Selbstbezogenheit sowie die Verwobenheit zwischen Kolonial- und NS-Verbrechen Deutschlands. Damit thematisiert sie auch die »Kluft zwischen weißer und schwarzer Erinnerung« (S. 156): »Die Zurückhaltung eines Teils der Öffentlichkeit, Holocaust und koloniale Verbrechen in gedankliche und moralisch-ethische Beziehungen zueinander zu bringen, deklamiert sich selbst als ethisch doppelt gut: als Ausdruck einer fürsorglichen Aufmerksamkeit für Juden und Jüdinnen und als Anrufungszeichen, am Judenmord nichts zu relativieren. (…) Gedenkkultur ist keine Barrikade, um sich dahinter zu verschanzen, und gerade Deutschen steht ein Besitzanspruch auf die richtige Interpretation der Shoah nicht gut zu Gesicht« (S. 175).
Anrührend und irritierend zugleich sucht Wiedemann nach Antworten auf die Frage nach der Perspektivität des Antifaschismus heute. Es gelingt ihr dabei eine Blickerweiterung gegenüber unserer weißen, europäischen Partikularität. Die Autorin berichtet über Gewaltexzesse, Massenvernichtungen und Gedenkaktivitäten in Europa, Asien und Afrika. In exemplarischer Absicht hier drei Beispiele.
Stukenbrock ist eine kleiner Ort in Ostwestfalen. Vermutlich 65.000 sowjetische Kriegsgefangene kamen dort als Zwangsarbeiter im Stammlager 326 »unter den Händen der Wehrmacht zu Tode« (S. 96). Diese Morde wurden nach Kriegsende gleichsam unsichtbar gemacht. Und zwar, »weil es den Mythos einer sauberen Wehrmacht zu verteidigen galt. Und weil die Zwangsarbeit so viele Nutznießer hatte« (ebd.). Zivilgesellschaftliche Akteure wie der Arbeitskreis »Blumen für Stukenbrock« erinnerten 1967 – bei massiven Anfeindungen im Ort – am 1. September (Antikriegstag) an die Massenmorde und tun es bis heute. »Unendlich langsam, über einen Zeitraum von sechs, sieben, acht Jahrzehnten, hat sich in Stukenbrock die Haltung zum Lager (…) verändert« (S. 106), und es sind Erinnerungsorte entstanden.
Etwa eine Million Menschen wurden zwischen 1880 und 1919 in Afrika Opfer des deutschen kaiserlichen Kolonialismus. Dessen Spuren wurden in Vergessenheit gebracht, wie zum Beispiel in Tansania (1905–1907): »Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, Felder abgebrannt, Vorräte vernichtet, Brunnen vergiftet. (…) Die meisten Opfer dieses Krieges wurden nicht erschossen, sie verhungerten. Das Vorgehen der Kolonialmacht war von einer ins Irrationale reichenden Vernichtungswut gekennzeichnet« (S. 153). Die Autorin folgert wegen dieser nie aufgearbeiteten Kolonial-verbrechen, dass offensichtlich ein Bewusstsein für die deutsche Zuständigkeit fehlte: »Da koloniale Täterschaft als solche nicht empfunden wurde, gab es auch kein Schuldgefühl, das verdrängt werden musste« (S. 165).
Im Baltikum gibt es ein vielgestaltiges Gedenken an die grausamen Massenvernichtungen – durch das Deutsche Reich und durch die Sowjetunion. Aber: Es steht »eine erinnerungspolitische Mauer zwischen West- und Osteuropa, zwischen den Ländern mit und ohne kommunistische Erfahrung« (S. 117). Erinnerung ist eminent politisch. So wird häufig die Grausamkeit der NS-Gewalt antistalinistisch codiert: »Der Mord an den einheimischen Juden wird quasi überblendet von einer mythischen Geschichte vom nationalen Widerstand gegen sowjetische Fremdherrschaft« (S. 126). Welcher Schmerz zählt? Was steuert Empathie? Wiedemann: »Vergleiche sind oft schief, auch dieser ist es: dass sich im Baltikum die Erinnerung an die Shoah so von der Seite an die vorherrschende Stalinismus-Gedenkkultur heranschieben muss, wie sich im Westen die Erinnerung an koloniale Opfer einen Platz neben der dominierenden Holocaust-Gedenkkultur sucht. Auch schiefe Vergleiche haben Fingerzeige« (S. 148).
Die Verfasserin zeigt auf, dass Massenvernichtungen in ihrer jeweiligen Historie einmalig sind und das Gedenken daran nicht in Konkurrenz zueinander stehen soll. Schade nur, dass sie in ihrer Schrift kaum Quellennachweise vorgelegt hat.