Dokument des Versagens

geschrieben von Janka Kluge

8. November 2022

Leak in Hessen: Geheimgehaltener NSU-Bericht des Landes-VS veröffentlicht

Dem Journalisten Jan Böhmermann vom ZDF-»Magazin Royale« und der Rechercheplattform »Frag den Staat« ist kurz vor Drucklegung dieser Ausgabe eine Sensation gelungen. Sie bekamen den kompletten unter Verschluss gehaltenen Bericht des hessischen Verfassungsschutzes (VS) über die Bezüge des NSU nach Hessen und die Erkenntnisse der dortigen Schlapphüte zugespielt. Um ihre Quelle zu schützen, haben sie das Dokument, immerhin fast 180 Seiten, komplett abgeschrieben, so dass im Internet eine Abschrift abzurufen ist. Der Bericht sollte zuerst für 120 Jahre gesperrt sein. Nachdem viele Menschen und Organisationen dagegen protestiert hatten, darunter auch die VVN-BdA, wurde die Geheimhaltung auf 30 Jahre reduziert.

Bei einer ersten Sichtung der Dokumente ist mir aufgefallen, wie oft der hessische VS notierte, dass sich Neonazis Waffen zulegten. Es wurden sogar Schießübungen in der Schweiz und in Tschechien notiert, zu denen die Neonazis gereist waren. Antifarecherchen zeigen seit Jahrzehnten, dass die zunehmende Bewaffnung der neonazistischen Strukturen beängstigend ist. Immer wieder wurden auch Mitglieder der NPD registriert, die auf Treffen der Partei über die Waffen prahlten. Ebenso steht in den Berichten, dass sie angaben, diese auch benutzen zu wollen. Die antifaschistische Rechercheplattform »Exif« schätzt, dass der Waffenbezug rund 41 Prozent des Berichtsumfangs einnimmt.

Der Bericht online: nsuakten.gratis

Der Bericht online: nsuakten.gratis

Aufgabe der Arbeitsgruppe, die den Bericht verfasst hat, war es, das Wissen des hessischen VS zum NSU zu untersuchen. Auch wenn viele Namen geschwärzt sind, wird deutlich, dass das NSU-Kerntrio Kontakte nach Hessen hatte. Beim Lesen fiel mir eine Stelle auf, in der der VS Hessen notierte, dass in Kassel eine Gruppe wie das »Zwickauer Trio« aufgebaut werden soll. Unter diesem Begriff sind Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe nach ihrem Abtauchen von den Behörden geführt worden. Das ist deswegen bemerkenswert, weil in Kassel am 6. April 2006 Halit Yozgat im Internetcafé seines Vaters ermordet wurde. Zum Zeitpunkt des Mordes war dort der hessische Verfassungsschützer Andreas Temme anwesend. Fast als Randnotiz wird mehrmals vermerkt, dass Äußerungen einzelner extremer Rechter darauf hindeuten, dass hessische Neonazis Kontakte zu den drei Untergetauchten hatten.

Der Bericht zeigt deutlich, wie viel der VS wusste und trotzdem weggeschaut hat, um seine Quellen nicht zu gefährden oder weil er es für völlig normal hielt, dass Nazis Waffen horten. Es ist ein Dokument des Versagens.