Aus dem Raster gefallen
7. Januar 2023
Über verleugnete NS-Opfer. Ein antifa-Gespräch mit Frank Nonnenmacher
antifa: Du hast schon in der antifa-Ausgabe Mai/Juni 2022 mit einem auch sehr persönlichen Beitrag über die NS-Verfolgten mit grünem und schwarzem Winkel geschrieben, also die von den Nationalsozialisten als »Berufsverbrecher« und »Asoziale« Stigmatisierten und Verfolgten. Gib doch bitte unseren Leserinnen und Lesern einen Einblick in deinen persönlichen und familiären Bezug zum Thema.
Frank Nonnenmacher: Während mein Vater Gustav für Hitlers Luftwaffe flog, war sein Halbbruder Ernst im KZ. Dieser hatte aus materieller Not kleinkriminelle Delikte begangen und seine Haftstrafen vollständig abgesessen.1 Ernst fühlte sich als Opfer der Aussortierungsmaschine »Kapitalismus« und als Teil des Proletariats, als »Kommunist«, ohne Parteimitglied zu sein. Die Differenz im Lebenslauf der Brüder hat später zu dramatischen innerfamiliären Diskussionen geführt. Durch Forschungen zu solchen Biografien habe ich gelernt, dass Delinquenz und Kriminalität eher eine Folge der Klassenlage als der persönlichen Moral sind. Warum schlafen die Reichen nicht unter den Brücken, betteln nicht und stehlen kein Brot? Die Antwort auf diese Frage, die Anatol France schon vor über hundert Jahren gestellt hat, ist heute so aufschlussreich wie damals. Nur stellt sie kaum jemand, und die Diskriminierung derer, die aus dem bürgerlichen Raster fallen, ist immer noch allgegenwärtig.
antifa: Ab und an wird, wenn einmal von sogenannten Berufsverbrechern bzw. Asozialen die Rede ist, von den »vergessenen Opfergruppen« gesprochen. Was ist damit gemeint, und welche Hintergründe siehst du?
F.N.: In den ersten Jahrzehnten nach 1945 sprach man nur von »politisch, religiös, rassisch oder weltanschaulich Verfolgten«. Sie wurden im BEG (Bundesentschädigungsgesetz) als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Andere, wie Sinti und Roma oder Homosexuelle, mussten beschämend lange kämpfen, bis sie anerkannt wurden. Die von den Nazis »Asoziale« und »Berufsverbrecher« genannten Menschen wurden weiterhin diskriminiert, sogar von den Verfolgtenverbänden ausgeschlossen. Ihnen wurden genetische Defekte unterstellt, weshalb sie einem »Trieb« zur Wanderschaft, Nicht-Sesshaftigkeit oder zur Kriminalität folgen würden. Dieses Menschenbild gab es schon vor den Nazis, und es gibt es bis heute. Die Nazis haben es auf die Spitze getrieben und wollten Delinquenz abschaffen, indem sie die so definierten Menschen »ausmerzen« und »vernichten« wollten. Das schafften sie auch in Zehntausenden von Fällen. Diese NS-Opfer wurden also nicht »vergessen«, son-dern bewusst ignoriert, weiterhin diskriminiert und verschwiegen. Das Schweigen herrschte nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in den Familien, in der Forschung, in der Erinnerungskultur. Ich finde inzwischen, sie sind die immer noch verleugneten Opfer des NS-Staats, und ich plädiere dafür, sie in Zukunft so zu benennen: Die Verleugneten. Der Ausdruck signalisiert die Art des Umgangs mit diesen KZ-Opfern.
antifa: Du bist gerade dabei, mit anderen eine neue Gruppe ins Leben zu rufen. Was verbindet euch, und warum dieser Schritt gerade jetzt?
F.N.: Uns verbindet, dass wir Nachkommen und Angehörige von Menschen sind, die zu den bis heute verleugneten NS-Opfern gehören. Uns verbindet das Bedürfnis, durch den Austausch mit anderen Nachfahren das innerfamiliäre Schweigen zu beenden. Uns verbindet das Bedauern, dass auch die Verbände der politisch Verfolgten an der Diskriminierung lange mitgewirkt haben. Das beschreiben zum Beispiel Christa Schikorra in »Kontinuitäten der Ausgrenzung« (Berlin 2001), Christa Paul (»Frühe Weichenstellungen« in: »Opfer als Akteure«, Frankfurt am Main 2008, S. 67 ff.) oder Wolfgang Ayaß in: »Ausgegrenzt. ›Asoziale‹ und ›Kriminelle‹ im nationalsozialistischen Lagersystem« (Bremen 2016, S. 16 ff.). Uns berührt noch heute das nebenstehende Bild des Malers Georg Tauber, eines »grünen« Dachau-Häftlings. Es ist ein Appell an die politisch Verfolgten, sie nicht zu vergessen, sie nicht auszugrenzen. Der Appell wurde nicht gehört. Auch der Versuch Georg Taubers, 1946 eine Verfolgtenzeitschrift unter dem Titel Die Vergessenen zu gründen, wurde sehr schnell wieder aufgegeben. Uns verbindet auch die Erfahrung, dass sich niemand für die vollständige Umsetzung aller Punkte des Bundestagsbeschlusses von 2020 einsetzt, ebenso wenig für die Einbeziehung der verleugneten NS-Opfer in das erinnerungskulturelle Gedenken der Republik, wenn wir es nicht tun.
Das Gespräch führte Andreas Siegmund-Schultze
1 Die beiden Biografien lassen sich nachlesen in Frank Nonnenmacher: DU hattest es besser als ICH: Zwei Brüder im 20. Jahrhundert. Westarp, Bad Homburg 2015, 352 Seiten, 19,80 Euro